Leseprobe

13 Du hast mir deinen Schmutz gegeben und ich habe daraus Gold gemacht. CHARLES BAUDELAIRE 1861 · ÜBER DIE STADT PARIS Artaud: Hat der Surrealismus noch immer dieselbe Bedeutung für die Gestaltung oder die Unordnung unseres Lebens? Breton: Das ist der Schmutz, der allein aus Blumen besteht. LA RÉVOLUTION SURRÉALISTE · MÄRZ 1928 Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen kurz nacheinander zwei grundlegende Schriften, in denen es um eine neue Bedeutung des Hässlichen und des Bösen geht: die Ästhetik des Häßlichen (1853) des deutschen Philosophen Karl Rosenkranz und Les Fleurs du Mal (1857) von Charles Baudelaire. Versuchte der heute nahezu unbekannte Philosoph, in einer allgemeinen Ästhetik neben dem reinen Schönen und Guten auch dem Hässlichen einen Platz einzuräumen, so unternahm der Dichter das Wagnis einer Gratwanderung, die ihn zu einem der berühmtesten Vertreter der Moderne machen sollte. Anders als Rosenkranz, dem es um die Rettung eines in sich ausgewogenen Gesamtsystems ging, erkannte Baudelaire die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Obwohl auch er die Idee eines übergeordneten Schönen und Guten nie aufgab (er bezeichnete sich gar als gläubigen Katholiken), war sich Baudelaire des immer weiter aufklaffenden Abgrunds bewusst, der seine Lebenswelt von den hehren Idealen trennte. Angesichts einer sich durch die Industrialisierung rasant verändernden Welt (Baudelaire sprach von »Amerikanisierung«) setzte im 19. Jahrhundert eine »Umwertung aller Werte« (Friedrich Nietzsche, 1886) ein, die jedes auf Tradition und Glauben basierende statische Wertesystem, wie Rosenkranz es noch zu verteidigen suchte, ins Wanken brachte. Aus heutiger Sicht lassen sich Baudelaires Fleurs du Mal als kongeniale Vorboten einer neuen ästhetischen Wahrnehmung verstehen, in der das Schöne auch hässlich oder böse sein kann. Die bildende Kunst spielt nicht nur in Baudelaires ästhetischen Schriften, sondern auch in den Fleurs du Mal eine wichtige Rolle: Es werden Kunstwerke beschrieben oder Künstler genannt, die Baudelaire verehrt – angefangen mit Leonardo, Rubens und Rembrandt über Francisco de Goya bis hin zu Eugène Delacroix. Auch sprachlich sind in seinen Gedichten Wort und Bild eng miteinander verknüpft – man denke nur an das mächtige Bild des verwesenden Eselkadavers, das 1929 in einem der wohl berühmtesten Filme der Surrealisten, Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí, wieder auftaucht. Für die Surrealisten waren das vermeintlich Hässliche und Böse der magische Zauberschlüssel für eine gänzlich neue Ästhetik. Sie liebten Lautréamonts Gesänge des Maldoror oder die Schriften des Marquis de Sade und setzten sich für Verbrecherinnen ein, um dem kunst- und literaturbeflissenen Establishment Wege in eine andere, bis dahin unbekannte Welt aufzuzeigen. Niemals ging es dabei um die Zerstörung an sich, immer um eine Dekonstruktion des vermeintlich Guten, das dem Neuen, Unerprobten das Existenzrecht verwehrt. »Das Schöne ist immer bizarr«, schrieb Baudelaire in einer Besprechung des Pariser Salons von 1855. Und in seinem Tagebuch notierte er: »Ich habe die Definition des Schönen gefunden – meinen Schönheitsbegriff. Etwas zugleich voller Trauer und voll verhaltener Glut, etwas schwebend Ungenaues, das der Vermutung Spielraum läßt« (Raketen, 1855 –1862). Die Ausstellung Böse Blumen ist eine Gratwanderung. Sie wirft einen Blick in menschliche Abgründe und gerät an die Grenzen des guten Geschmacks. Keinesfalls will sie die Dichtungen Baudelaires illustrieren. Sie ist nicht systematisch und hält keine Lehren bereit. Sie ist selbst ein Strauß wilder Blüten, verheißungsvoll, giftig und hoffentlich stilblütenfrei.

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