157 Im Juni 2024 stoße ich im Atelier von Katharina Grosse auf eine Reihe von Objekten, die ich am ehesten als klumpig in Erinnerung behalte. Fast alle sind auf einem Untergrund aus rechteckigem Karton befestigt, größer als DIN-A4 und kleiner als DIN-A3, und sie liegen nebeneinander auf langen weißen Tischen. Von dort aus wellen, bauschen und beulen sie sich auf. Die Arbeiten stammen aus den Jahren 1987 bis 1990, die noch zu den Studienjahren der Künstlerin gehören. Die Künstlerin sagt: „Ich habe Wege gesucht, in den Raum zu kommen.“ Mehr sagt sie nicht, weil ich sie gebeten habe, mich mit den Arbeiten allein zu lassen. Die Objekte auf den weißen Tischen werben nicht um die Blicke der Betrachtenden. Das Anziehende an ihnen ist das Unansehnliche: Gedeckte Farben, die alt aussehen, wie Buchumschläge aus den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Von der Materialität her oft halb opak, wächsernes Wachs, wächsernes Polyethylen, das sich wellt, als wäre es zu heiß geworden, mit Ölfarbe begossen oder bestrichen. „Alles hinten verspaxt“, sagt die jetzt im 21. Jahrhundert angekommene Künstlerin, dreht eine der Arbeiten um und zeigt die Schrauben vor. „Alle haben damals gespaxt.“ Diese Arbeiten haben etwas Schartiges oder auch Glibbriges, etwas von Alchemie – zusammengegossene Flüssigkeiten, die nicht zusammengehören wollen, Hügelland. Anderswo erheben sich plötzlich kleine bunte Tafelberge, wie Sockel für noch zu schaffende Skulpturen. Plastilin und Leinöl, ein Hauch Kinderzimmer, ein Hauch Modelleisenbahn. Miniaturen zur Landschaftsgestaltung auf einem fernen Planeten, für ein Paralleluniversum. Paradoxerweise wirkt das, was da in den Raum will und soll, manchmal gedrängt und gestaucht – viel Wollen ohne Befreiung. Geballte Kraft, vielleicht auch Wut. Manches erzählt vielleicht auch von der Unbedingtheit, mit der sich eine junge Künstlerin an der Akademie in den Raum hinein experimentiert. Ein Raum, der in der Kunst von wilden Männern beherrscht wird, die alle Größe wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Interessanterweise zeigt mir der Blick auf die Bilder der Arbeiten später, dass sie weniger klumpig sind, als ich sie in Erinnerung hatte. Die klumpigen sind mir nur stärker im Gedächtnis geblieben, zur Faust geballtes Plastilin. Eine Werkphase. „Dann gibt es irgendwo einen Bruch“, sagt die Künstlerin und lässt den Satz in der Luft hängen. Ich vollziehe den Bruch mit einer Reise nach. Sie katapultiert mich mitten in eine große Arbeit der Künstlerin, die gerade in Nordfrankreich ausgestellt wird: Shifting the Stars im Centre Pompidou-Metz. Sie wurde für eine Ausstellung in Sydney entwickelt und für Metz angepasst. Die Installation ist begehbar, und auch jenseits ihres eigenen Horizonts aus Stoff, vor den Museumsfenstern, setzt sie sich auf dem Asphalt fort. Das ist keine Arbeit, die in den Raum hinaus will – sie ist der Raum, und sie ist es so sehr, dass sie, ist man erst einmal in ihrem Inneren, alle Vorstellungen von einer Außenwelt übermalt. Sie besteht aus Tüchern, vernäht zu einem gigantischen Gebilde, das von der Decke hängt, Falten wirft und den Raum umschließt. Die Tücher wurden satt mit Farbe besprüht, beworfen. Auch den Boden bedeckt der farbgetränkte Stoff, und wenn man die Kunst erleben will, muss man auf ihr herumtrampeln. Von der Farbigkeit her ist das Ganze – bunt. „Bunt“ ist vielleicht das falsche Wort, es klingt nach Kinderzimmer, Geschenkpapier. Trotzdem fällt mir kein anderes ein. Die Farben sind da. Sie kämpfen nicht miteinander, sie drängen sich nicht mit eigenen Interessen in den Vordergrund, das Gesamtbild ist ausgeglichen. Die Farben sind anwesend, aber es geht nicht um sie. Dabei gibt es keine Zufälle, keine Wahllosigkeit: Wenn man sie fragt, wird die Künstlerin die Auswahl jeder einzelnen Farbe, jeder Farbkombination begründen. Das Zufällige (das „Natürliche“, wie man fast sagen könnte, wenn es um Farb-Rinnsale geht, die beim Sprayen entstanden und am Stoff hinuntergelaufen sind) kommt in den Arbeiten dieser Künstlerin also wahrscheinlich ganz allgemein nicht in Form von Nachlässigkeit vor. Zufall wird kontrolliert verarbeitet.
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