14 / 15 Unter den Künstlern des frühen 19. Jahrhunderts gilt der norwegische, in Deutschland tätige Maler Johan Christian Dahl, der besonders der »wilden« Natur Bildwürde verliehen hat, als Favorit von Miguel Rothschild. Letzterer bedient sich selbstredend aktueller Instrumentarien, um seiner Naturempfindung adäquaten Ausdruck zu verleihen. Seine Landschaften sind durchaus erfüllt von Spiritualität, untermauert in Titeln wie The Valley of Souls (S. 37) und Geist 20.10. 2018 (S. 39). In den beiden 2019 beziehungsweise 2020 entstandenen großformatigen Arbeiten gewinnt der Betrachter eine Aufsicht auf dunkle, dichte Wälder, aus denen Rauch aufsteigt. Vielleicht ist ein Feuer ausgebrochen – Flammen selbst sind nicht zu sehen. Der Qualm scheint sich direkt vom Boden des unwirklichen, schwer zugänglichen Geländes zu entwickeln – wenn überhaupt, könnte das Feuer nur aus der Luft gelöscht werden. Dies ist der Eindruck, der sich dem Betrachter aus der Distanz vermittelt. Doch tritt jener näher an die Bildoberfläche heran, scheinen die Fotografien selbst Opfer des Feuers geworden zu sein: Reale Spuren von Verbrennungen, ausgeführt mittels eines Lötkolbens, werden sichtbar. Es haben sich unterschiedlich große und unregelmäßige Brandlöcher in die Oberfläche gebohrt, sie erobern den Tiefenraum und lassen den darunterliegenden Bildträger, der ebenfalls Brandspuren trägt, sichtbar werden. Mit dem gewaltsamen Eingriff, mit der partiellen Zerstörung der Bildoberfläche, verweigert Rothschild uns den Blick auf das vormals Vollendete. Illusion und Wirklichkeit greifen ineinander, eine Imagination, die durch Verschattungen noch verstärkt wird, die je nach Umgebungslicht variiert. Rauch ist flüchtig, immateriell wie Geister oder Waldgespenster, die unerwartet auftauchen und sich wieder verflüchtigen, denen jedoch – wie Rothschild überzeugt ist – eine Seele inhärent ist. Es bleibt spekulativ, ob es gute Geister oder Dämonen sind. Ja, ob es überhaupt solche Wesen sind, die hier in Erscheinung treten. Sie verraten sich nicht, es bleibt trügerisch – die Varianz der Möglichkeiten, die sich unter dem Begriff des Erhabenen entfaltet, ist groß. Die Referenz auf romantische Dichtung, in der durch Wälder geisternde Wesen eine bedeutende Rolle spielen, ist virulent. So gehen Hein und Rothschild auf ganz unterschiedliche Weise mit Bildoberflächen um, schenken dem Betrachter Illusionen und ent- und verzaubern jene zugleich.6 Wolken Ein anderer Themenbereich knüpft ebenfalls an Bildkonzepte an, die Anfang des 19. Jahrhunderts erstmalig formuliert wurden. Der Blick richtete sich nach oben, zum Himmel, auf Wolkengebilde, denen fortan autonome Bildwürde zugesprochen wurde. Wolken führen uns unsere eigene Nichtigkeit vor Augen. Menschen und Wolken sind ihrer Natur nach verwandt: flüchtig, dahineilend, unbeständig, sich verändernd, dann wieder verschwinden sie, nur die zeitlichen Dimensionen sind andere. 6 Weiterführende Literatur zu Rothschild, siehe Kat. Miguel Rothschild, bearb. von María Cecilia Barbetta/Beatrice von Bismarck, Ostfildern 2015; Kat. Le Spectre. Miguel Rothschild, bearb. von Béatrice Andrieux u.a., Paris 2019; weiterführende Literatur zu Jochen Hein, siehe Kat. Jochen Hein. Die Natur des Menschen. Human Nature, hg. von Markus Bertsch/Beatrix Obernosterer/Christiane Ladleif, Ostfildern 2013.
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