Leseprobe

I 218 Bildliche Repräsentation mischen Landespatrone Ludmilla und Wenzel im Treppenhaus des Großen Turms der Burg Karlstein15 überzeugt nicht, da die hier gebotene und elegant genutzte Lese-Situation eine völlig andere ist – der Betrachter verfolgt die Erzählungen beim Auf- respektive Absteigen. Bei einer erneuten Beschäftigung mit den Wandmalereien von Siedlęcin ist somit von verschiedenen Ausgangspunkten bzw. -bereichen auszugehen, die nicht allzu schnell verknüpft werden sollen, weil eine solche Verknüpfung stets einer guten Begründung bedarf, wie diese im Einzelnen auch aussehen mag. So fehlen eindeutig auf den Wohnturm zu beziehende Schriftquellen. Einziger Fixpunkt für die Einordnung bleibt zunächst die naturwissenschaftliche Basis der Dendrochonologie, die uns einen terminus postquem für die Entstehung der Malereien liefert: Das Fälldatum der ältesten Hölzer 1313/14 und somit eine wohl 1315/16 erfolgte Fertigstellung des Turmes.16 Wie mit der dendrochronologischen Datierung des Turms feststeht, wurde er kurz nach Amtsantritt Herzog Heinrichs I. (*um 1294, † 15. 5. 1346) in seinem wieder unabhängigen Herzogtum Jauer (Jawor) im Jahre 1312 begonnen. Zwar verweist Jan Dienstbier in seinem Beitrag zu Recht darauf, dass wir erst 1368/69 etwas über die damalige Erbin des Turmes, Agnes von Habsburg (1315–1392), Witwe Bolkos II. von Schweidnitz (*1308, reg. 1326–1368), und den Verkauf an die Familie von Redern erfahren, doch erscheint es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass das Bauwerk auch früher im Besitz der herzoglichen Familie war und von ihr erbaut wurde. Heinrich I. heiratete 1316 Agnes (Anežka; *1305, † 1337), eine Tochter des vorletzten böhmischen Königs aus dem Hause der Přemysliden, Wenzels II. (*27. 9. 1271, † 21. 6. 1305), und seiner zweiten Gemahlin Elisabeth Richza (*1. 9. 1286 oder 1288, † 19. 10. 1335), die wiederum die Tochter des kurzzeitigen polnischen Königs Przemysławs II. (*14. 10. 1257, gekrönt 1295, ermordet 8. 2. 1296) war – eine Piastin aus dem großpolnischen Zweig der Familie. Agnes war somit Halbschwester König Wenzel III. (*6. 10. 1289, † 4. 8. 1306) und der Elisabeth (*20. 1. 1292, † 28. 9. 1330), Heinrich I. wiederum »Schwippschwager« des böhmischen Königs Johann aus dem Hause Luxemburg (*10. 8. 1296, † 26. 8. 1346). Agnes erhielt als Mitgift die Pfandschaft Königgrätz (Hradec Králové) und die Burg Tzschocha (Czocha) an der Grenze Böhmens zum Herzogtum Jauer. Geht man also davon aus, dass der Wohnturm von Siedlęcin ein herzogliches Bauwerk war, allenfalls im engsten höfischen Umkreis entstand, so bewegt man sich bei der Bewertung der Wandmalereien in der allerhöchsten Gesellschaftsschicht des damaligen Mitteleuropa. Freilich ist, aufgrund des bisher zu konstatierenden Mangels jedweder Schriftquelle, keineswegs von vornherein festzulegen, das heißt: aus vermeintlich sinnvollen persönlichen Konstellationen abzuleiten, welche Akteure für diese Ausstattung verantwortlich gewesen sein mögen – und daraus dann eine Datierung abzuleiten. Hierbei hilft nur die künstlerisch-formale Seite der Wandbilder weiter. Sie kann auf eine althergebrachte, letztlich aber unverzichtbare Weise Abhängigkeiten, Anregungen, kurz: Verbindungslinien aufzeigen – eine kritische Stilkritik vorausgesetzt, die das tatsächliche Verhältnis der Malereien zu mehr oder minder eng verwandten Werken diskutiert. Die Maßstäbe einer Motiv- und Stilgeschichte müssen somit möglichst streng gefasst werden. Es ist nicht möglich, schlicht deswegen, Abb. 1 Boberröhrsdorf (Siedlęcin), Wohnturm, zweites Obergeschoss, Südwand, Szene eines Lehensgelübdes westlich der Fensternische (Foto: open source/L. Schneider)

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