LOOK!
LOOK! CHRISTIAN und HELGA von ALVENSLEBEN Zwei Leben für die klassische Fotografie FANTASIE UND WIRKLICHKEIT Für die Deutsche Fotothek herausgegeben von Jens Bove
STILLES LEBEN 1989 Ei mit Feder. VOGUE
1974 Bei einem alten Mann aus Hamburg-St. Georg in der Schublade gefunden. Sein Kinderlöffel 1974 Sein Festtags- und Hochzeitsfeierlöffel
1974 Sein Soldatenbesteck 1974 Sein Koch- und Alltagslöffel
2007 LIFE AND DEATH. Zum 90sten Geburtstag von Irving Penn 1993 Eisenkunst von 1914 bis 1918 („Gold gab ich für Eisen“). ARCHITEKTUR & WOHNEN 1993 Tattoo mit Messer. DIE ZEIT
1969 Spiegelsaal Schloss Nymphenburg. SCHÖNER WOHNEN 2002 Verfall (Gartenteich)
STIL 1999 Dekolleté
2004 Busenblüten. KODAK 2004 Tulpenhut. KODAK
2004 Blüte im Mund. KODAK
1982 Bademode, Bein im Wasser. VOGUE 1982 Bademode, Sprung rückwärts. VOGUE
ZU TISCH 1999 Bon appétit. STERN
1969 Beachbusdinner, Nassau, Bahamas 1970 American Habits. ARCHITEKTUR & WOHNEN
1972 Kleine Allee im Jersbeker Schlossgarten. ARCHITEKTUR & WOHNEN
1972 Große Allee im Jersbeker Schlossgarten. ARCHITEKTUR & WOHNEN
LAND UND LEUTE 1998 Melonen. STERN
2006 GÖTTERBÄUME — Malona, Rhodos Durchmesser: 250cm 2006 GÖTTERBÄUME — Lahania, Rhodos Durchmesser: 330cm
2011 ARCHAIK — Christos, Archangelos, Rhodos
2011 ARCHAIK — Nikolaos, Archangelos, Rhodos
2010 ARCHAIK — Stones and Bones: Delfinschädel, Rhodos 2011 ARCHAIK — Cactaceae: Mammilaria Toluca (Mexico)
GESICHTER 2002 TAFEL DEUTSCHLAND — Steffen Seibert, Journalist. STERN
1972 Gerd Tinglum im Sonnenaufgang auf Ibiza. FUJI FILM 1978 Der zarte Duft. CHANEL
1971 Junger Mann aus Hamburg-St.Georg 1969 Esther Carola Regnier, Schauspielerin
1969 Christian Herrendoerfer, Journalist und Filmregisseur 1968 Dato Dahlke und Charly Wüllner, Künstler
1973 Willy Brandt und Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag in Neumünster. SPD
2002 Bundeskanzler Gerhard Schröder im Kanzleramt. SPD 2002 Bundeskanzler Gerhard Schröder im Dienstwagen. SPD
GENUSS MIT RESPEKT 2003 Zähne. STERN
2005 Bruno Bruni, Vino. Verlag HÄDECKE 2005 Bruno Bruni, Penne a la Bruno. Verlag HÄDECKE
2002 Schlachttag. Das gewaschene Schwein. STERN 1993 Kapaun und Schwein, Januar. VIER JAHRESZEITEN KALENDER 2002 Schlachttag. Das Ausbluten. STERN
DIE ERDE UND DER MENSCH 2001 Petra. STERN
1963 DIE SPUR DES LEOPARDEN — Vom Pfeil getroffene Oribi-Antilope (Mozambique) 1963 DIE SPUR DES LEOPARDEN — Großer Kudu, Thomas May und Amadeo Peixe (Mozambique)
1963 DIE SPUR DES LEOPARDEN — Bungalow im Maincamp von Zinave mit Signaturen der Jagdgäste (Mozambique)
1975 Ölpest, Kormoran. Sylt 1999 Beifang, Blauhai. Atlantik
2011 MEERESFRÜCHTE — Die Luftmatratze, Rhodos
2007 MEERESFRÜCHTE — Die blaue Plastikflasche, Rhodos
2024 ILLUSION — Aufgetauchte Olivenbaumwurzel, Andalusien (Spanien) 2024 ILLUSION — Ausgetrocknete Erde, Andalusien (Spanien)
Die Ausnahme, nicht die Regel von Sebastian Lux, STIFTUNG F.C. GUNDLACH
Welche Bilder wählt man für einen Bildband, wenn man auf ein reichhaltiges fotografisches Lebenswerk zurückgreifen kann, das mehr als sechs Jahrzehnte umspannt, aber nur 300 Buchseiten zur Verfügung stehen? Christian und Helga von Alvensleben haben diese Herausforderung mit bemerkenswerter Leichtigkeit gemeistert. Gemeinsam haben sie eine sehr persönliche Auswahl wunderbar vielseitiger Motive getroffen – getragen von einem klaren Konzept: Keine schlichte Chronologie, kein linearer biografischer Abriss sollte es sein, stattdessen starke Einzelbilder und Serien, gegliedert in sieben assoziative Kapitel. Wie sorgsam arrangierte Blumensträuße stiften diese Kapitel neue Zusammenhänge. Unter den Überschriften Stilles Leben, Stil, Zu Tisch, Land und Leute, Gesichter, Genuss mit Respekt, Orte der Dichter und Die Erde und der Mensch entführen uns die beiden auf eine Reise in die Ästhetik und Geschichte der Fotografie – und in ihre ganz eigene Bilderwelt. Jedes einzelne Bild ist überraschend, und doch drückt sich in jedem die individuelle Bildsprache Christian von Alvenslebens unverkennbar aus. Die Zusammenstellung der Bilder zu Werkgruppen macht zudem die künstlerische Haltung der beiden sichtbar und zeigt thematische und ikonografische Linien auf, die sich durch das gesamte Schaffen der beiden ziehen: die Liebe zum Detail, den gekonnten Umgang mit Licht, den hohen Anspruch an sich selbst und an die Fotografie, den Respekt für den Menschen und für die Formensprache der Natur. Lange bevor ich Christian und Helga von Alvensleben persönlich begegnete, hatten sie mir mit ihren Fotografien schon Geschichten erzählt: Den Camel-Mann schickten sie auf abenteuerliche Reisen – immer mit dem charakteristischen Loch in der Schuhsohle, das er sich auf wilden Pfaden im Dschungel oder in der Wüste erlaufen hatte. Oder sie fotografierten vibrierende Szenen schöner Menschen in knackig engen Mustang-Jeans, tanzend in coolen Diskotheken und an blauglitzernden Pools. Es steckte immer viel mehr in den Bildern, als man mit bloßem Auge sehen konnte! Bei F. C. Gundlach begegnete ich Christian von Alvenslebens DAS APOKALYPTISCHE MENU, einer großformatigen Kassette mit beunruhigenden Stillleben, von einem abgetrennten Kalbskopf bis zu einer plattgefahrenen Milchkanne. Schon damals wurde sie deutlich, diese scheinbar mühelose Balance zwischen unterschiedlichen fotografischen Sphären, die mich bis heute fasziniert. Und so freut es mich besonders, dass das gemeinsame Lebenswerk des kreativen Paares in der Deutschen Fotothek Dresden im ARCHIV DER FOTOGRAFEN bewahrt und mit dem vorliegenden Buch ein Überblick über ihr Schaffen gegeben wird. Tatsächlich war Christian von Alvensleben über die Jahre in vielen fotografischen Genres erfolgreich. Ob Mode, Food, Reportage, Still, Landschaft, Portrait – immer wieder gelang es ihm, mit einem feinen Twist oder einer überraschenden Perspektive Motive zu schaffen, die bleiben: Plastikmüll aus dem Meer, wie glitzernde Juwelen im Studio inszeniert. Eine blaue Badekappe als Steak-Ersatz auf einem Designertisch von Thomas Wendtland. Oder ein üppiges Früchtebuffet, kunstvoll arrangiert in einem ausgebrannten Reisebus bei Nassau auf den Bahamas. Mit feinem Gespür nutzt Christian von Alvensleben die besonderen Qualitäten des Lichts im Studio ebenso wie auf den sonnenverbrannten Lavafeldern Lanzarotes oder in den saftig grünen Parklandschaften Norddeutschlands. Zudem hat er einen unverwechselbaren fotografischen Blick und den Kopf voller Ideen. Seine Inszenierungen wirken oft fast architektonisch, auch verspielt arrangierte Motive ruhen in sich durch ihre formale Strenge. Grundlage der kreativen Arbeit ist die meisterhafte Beherrschung der Fototechnik, die ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen ist: Wenn ich mit der Großbildkamera fotografiert habe, bei gedimmtem Licht, mit Auslöser, hingeguckt und geblitzt, dann habe ich die Augen zugemacht – das Bild auf der Netzhaut bleibt ein paar Sekunden stehen –, und dann habe ich schon gesehen: Das Bild ist gut. Seit Beginn der 1970er Jahre entstanden seine Bilder in enger Zusammenarbeit mit Helga von Alvensleben, die für ihn künstlerische Muse ist, Stylistin und Sparringspartnerin im kreativen Prozess. Beide sind detailversessen und anspruchsvoll, von der Idee bis zur Veröffentlichung. Wir ticken gleich, beschreibt Helga von Alvensleben diese enge Verbindung: Wenn Christian unterwegs war, irgendwo fotografiert hat, dann habe ich schon die nächsten Shootings vorbereitet. Und wenn Christian zurückkam, sagte er: Genau so! Und ihr Mann ergänzt: Wir wussten immer schon, wie das Bild aussieht. Und dann haben wir überlegt: Wie kommen wir dahin? Auf die Frage, welcher Anteil seiner Fotografien so ‚frei‘ entstanden sei, gibt Christian von Alvensleben die wunderschöne Antwort: 100 Prozent! Seine frischen Einfälle und seine Experimentierfreude waren ja gerade das, was Agenturen und Redaktionen an seiner Fotografie schätzten, und so boten sie ihm absolute Freiheit im Rahmen ihrer Aufträge – oder sie mussten damit rechnen, dass ihr Auftrag abgelehnt wurde. Um diese souveräne Leichtigkeit zu erreichen, scheuen die beiden keinen Aufwand. Für die Illustration zu einem Bericht über Herztransplantationen im STERN wollten sie beispielsweise zunächst historische Wachs-Nachbildungen menschlicher Organe aus dem 17. Jahrhundert aus einer anatomischen Sammlung in Italien entleihen. Als das scheiterte, reisten sie kurzerhand nach Amsterdam, wo Gunther von Hagens ihnen ein echtes, plastiniertes Menschenherz zur Verfügung stellte. Inszeniert auf rotem Samt wurde es neben dem technischen
Kunstherz ein dramatischer Hingucker. Zum Rezept Photographie à la Alvensleben gehört neben intensiver Vorbereitung und einem perfekten Styling eben auch ein Schuss Zufall! Erste fototechnische Erfahrungen sammelte er Anfang der 1950er Jahre mit einer geschenkten Kodak-Box. Zehn Jahre später fotografierte er Hubert Fichte in Montjustin in der Provence – es entstand eine erste Werkserie mit erzählerischem Charakter. Noch prägender waren die Erfahrungen in Mozambique: 1962 war mein Onkel Werner in Hamburg und fragte: Warum kommst du nicht nach Afrika? Ich war dann zwei Jahre bei ihm in Safarilandia. Dort habe ich alles dokumentiert, Großwildjäger und sterbende Tiere fotografiert. Das hat mich sehr verändert. In der späteren Veröffentlichung der Aufnahmen als DIE SPUR DES LEOPARDEN beschrieb Christiane Breustedt: Dieses Sterben – diesen ‚ersten Tod‘ für ihn selbst – fing Alvensleben mit der Kamera ein. Dabei ging er auf Distanz zu der sinnlosen Agonie der wundervollen Tiere, der Perversion der Jagden. Er portraitierte die reichen Jäger im Moment ihrer zweifelhaften Triumphe. Das Studium an der London Polytechnic School of Photography and Cinematography war dann schlicht zu langweilig für einen Fotografen, der sich bereits ganz anderen Herausforderungen gestellt hatte. Die anschließende Assistentenzeit bei Khan hingegen verlangte ihm in der Vielseitigkeit im Styling und in der Bildkomposition alles ab, bis dieser ihm abschließend den Rat erteilte: Werde ein Kreativer, ein Art Director! Bereits vor seinem Afrika-Aufenthalt traf Christian von Alvensleben im Salon seiner Mutter auf Künstler, Designer, Verleger und die Fotografen F. C. Gundlach, Charlotte March und Reinhart Wolf. Folgerichtig begann seine Karriere schließlich 1968 mit einem eigenen Studio in der Langen Reihe in Hamburg-St.Georg – unterstützt von Rudolf Augstein –, und bereits 1965 war ihm mit einem Portrait der Familie Wagner, ganzseitig in der französischen VOGUE abgedruckt, der Durchbruch gelungen. Es folgten 40 Jahre Food und Fashion, Still Life und Lifestyle, People und Nude, Advertising und Editorial für ARCHITEKTUR & WOHNEN, STERN, SPIEGEL, VANITY FAIR, VOGUE und viele andere. Es war Fotografie auf höchstem technischem und ästhetischem Niveau, ein Feuerwerk des Artifiziellen und des schönen Scheins. Gemeinsam reiste das Paar um die Welt, ihre Auftraggeber waren voller Vertrauen in ihre Kreativität, die Arbeitsbedingungen verschwenderisch: Für ein einziges Motiv flog man nach Hawaii, und wenn auf einer unbewaldeten Karibikinsel eine Palme benötigt wurde, ließ man sie mit dem Hubschrauber anliefern. In DAS APOKALYPTISCHE MENU von 1992 machte Christian von Alvensleben seine Zweifel am Lauf der Welt dann erstmals deutlich sichtbar. Der tote Hase ist hier kein respektvoll arrangiertes Wildbret mehr, sondern Roadkill, die Cola wird nicht mehr als cooler Drink an Bord einer Düsenmaschine gezeigt, sondern als Zivilisationsmüll in der Gosse. Als kreativer Augenöffner wurde das APOKALYPTISCHE MENU vom deutschen Art Directors Club mit dem Grand Prix ausgezeichnet. Seitdem sind freie thematische Werkserien im gemeinsamen Schaffen von Christian und Helga von Alvensleben immer wichtiger geworden. Seit 2006 widmen sie sich ausschließlich konzeptuellen Serien, die von der staunenden Begegnung mit den elementaren Bausteinen der Natur zeugen. Auf der Suche nach der visuellen Kraft des Authentischen reisen sie an extreme Orte, wo die Kraft der Elemente jede Manieriertheit hinwegfegt. Ihre Bilder betonen ohne mahnenden Zeigefinger, doch deutlich sichtbar, die Verantwortung der Menschheit für einen respektvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde. Doch zurück zur Bildauswahl: Der Bildteil des vorliegenden Bandes eröffnet mit einem kecken Ei. Als klassisches Sujet der Fotografie wird es hier mit modischem Esprit interpretiert: Es trägt eine feine Daune wie ein Hütchen, so weit in den Nacken geschoben, dass es herabzufallen droht. Diese Art kreativer Leidenschaft, gewürzt mit etwas Humor in der Inszenierung, prägt die Motive des Kapitels Stilles Leben. Die Dinge, die wir fotografieren, verdienen alle Respekt, erklärt Christian von Alvensleben. Diese intensive Auseinandersetzung mit arrangierten Objekten und Menschen in Mode und Lifestyle setzt sich in den Kapiteln Stil und Zu Tisch fort. Hier treten Einflüsse aus Kunst und Architektur zutage, ebenso wie subtile Kommentare zur gesellschaftlichen Realität – mal so offensichtlich wie im Bildnis eines Caravaggio-Jünglings mit Früchtestillleben, mal subtiler, etwa in der Spiegelung einer US-Flagge im silbernen Geschirr und der symbolisch dazu vergossenen Milch. Neben der makellosen Gestaltung von Szenerie, Bildgegenstand und Styling zeigt sich einer der wesentlichen Kunstgriffe des Fotografen: die Vergegenwärtigung des Mediums selbst. So bricht das Styling bewusst die Illusion, wenn etwa Designobjekte von Richard Sapper auf Hintergrundpapier angeordnet sind, das Papier aber als Material ins Bild tritt, indem es geknickt, geknüllt, zerrissen ist. Noch einmal wird das Spiel mit Objekten und ihrer Inszenierung im Kapitel Genuss mit Respekt aufgegriffen. Zwischen Jagdstillleben und Memento Mori angesiedelt, wird beispielsweise der elegante Fuß einer Ente mit fein gezeichneten Schwimmhäuten und wie schwarz lackierten Krallen gezeigt – zur Reifung abgehängt als Wildbret für den Entenbraten. Auch die goldenen Schuppen des Karpfens werden im Kochtopf enden, nur der Hummer zerbeißt in einer Art Revolte gegen das Weihnachtsmenü eine Christbaumkugel. Ganz anders die Motive im Kapitel Land und Leute. Beginnend mit den Bauten im Gartenreich Wörlitz, den uralten Götter-
bäumen der Olivenhaine auf Rhodos und den tosenden Atlantikwellen vor der Steilküste Portugals, finden sich hier serielle Arbeiten zu Landschaften und ihren Bewohnern. Der Mensch tritt in Gestalt der Wilden Männer von Archangelos auf Rhodos hinzu, die mit Ruß und Mehl, mit Lehm und Öl, mit Joghurt und Fisch verschmiert tanzen und die Zyklen ländlichen Lebens ehren: Geburt, Tod und Auferstehung, Saat und Fruchtbarkeit. Das Kapitel schließt mit Bildern aus den verfallenden Salinen bei Margherita di Savoia, wo zerbroche Stahlkonstruktionen alter Maschinen in starkem Kontrast gegen die strahlend weißen Salzhügel aufragen – ein Spiel von Form und Textur, von Verfall und zeitloser Schönheit. Unter der Überschrift Gesichter sind intensive Portraits von Menschen versammelt, die dem Fotografen etwas bedeuten, die ihn bewegt haben – Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Politik, aber auch Biker, Boxer und Zufallsbekanntschaften. In diesen Portraits spürt man die intensive Verbindung zwischen dem Fotografen und seinem Gegenüber. Ich bin sehr dankbar, interessante Menschen unterschiedlichster Herkunft und mit verschiedensten Fähigkeiten in ihrem ganz eigenen Umfeld getroffen zu haben, sagt er. Auch wenn die Begegnung flüchtig war und der Moment der Aufnahme vielleicht nur eine Achtelsekunde dauerte: Es bleibt etwas zurück. Beide Lebenslinien haben ihre Richtung geändert, wie die Flugbahnen zweier Himmelskörper im Vorbeiflug durch die Wechselwirkung der Kräfte verändert werden. Ein Bild etwa zeigt die Füße von Dariusz Michalczewski beim Seilspringen. Schwebend, beinahe schwerelos, und doch Ausdruck rigorosen Trainings. Ich habe beobachtet, dass das Seil, das durch die Geschwindigkeit fast unsichtbar war, unten, wenn es den Boden berührte, für den Bruchteil einer Sekunde stillstand – das war das Bild, das wollte ich einfangen, erinnert sich von Alvensleben. Als Orte der Dichter haben Christian und Helga von Alvensleben drei Bildstrecken zusammengestellt: Die Portraits von Hubert Fichte in Montjustin zeigen ihn bei der Feldarbeit. Auf einem Bild trägt er ein Lamm in den Armen – es ist ein Sinnbild der Selbstfindung und des arkadischen Lebens. Albert Camus’ letzten Wohnort Lourmarin zeigt Christian von Alvensleben, als sei die Zeit stehengeblieben, als sei Camus gerade erst gegangen. Lanzarote schließlich, die Isla Negra, die Rafael Arozarena in seinen Roman MARARÍA verewigte, wird in harten Kontrasten gezeigt, es ist eine respektvolle Annäherung an die Lebensumstände, die sich tief in die Gesichter der Insel und ihrer Bewohner eingezeichnet haben. Gebrochen wird die ästhetische Faszination durch die Werkserien des abschließenden Kapitels Die Erde und der Mensch, welche die drohende Zerstörung von Umwelt und Natur und den Verlust traditioneller Lebensformen ins Bild setzen. Darunter beispielsweise die Bilder des Ältestenrats der Hopi in Arizona. Christian war ein aufmerksamer Zuhörer und in der Lage, seinen Protagonisten zu zeigen, dass sie ihm wichtig waren, erinnert sich Claus Biegert an die gemeinsame Reise im Jahr 1977. ALL INCLUSIVE thematisiert die Folgen des Massentourismus auf Rhodos – leerstehende Kapellen und verlassene Karussellfiguren wirken wie Symbole einer ausgelaugten Welt. Ähnlich kritisch greift die Serie MEERESFRÜCHTE die Verschmutzung der Meere als zentrales ökologisches Problem auf, während ILLUSION den ausgetrockneten Guadalcacín-Staudamm in Andalusien als Exempel der Folgen der Klimaveränderung einfängt – eine Landschaft, die von Schönheit und Verlust gleichermaßen erzählt. Besonders eindrucksvoll sind die szenischen Portraits des Butoh-Tänzers Mitsutaka Ishii. Sein Tanz mit einem Ei und einem Fisch zelebriert eine Würdigung der Nahrung als Verinnerlichung. In über 60 Jahren hat Christian von Alvensleben ein fotografisches Werk geschaffen, das längst Einzug in Galerien und Museen gehalten hat. Geehrt wurde er 2009 unter anderem vom deutschen Art Directors Club für sein Lebenswerk und mit der Ehrenmitgliedschaft im Berufsverband Freie Fotografen und Filmgestalter (BFF). Beide Verbände ehren in ihm den Fotografen als Designer. Das ist insofern passend, als Christian von Alvensleben in seinem fotografischen Schaffen gemeinsam mit Helga von Alvensleben nach dem Eigenständigen, dem erfrischend Neuen gesucht hat. Für jeden Auftrag einen neuen Look zu erfinden, war ihre Maxime. Jürgen Petermann beschreibt ihn in einem unveröffentlichten Text: Ein ästhetischer Chronist des Zeitgeschehens, einer, der sich einlässt auf die unaufgelösten Widersprüche der Gesellschaft, erschütterbar und auf Gerechtigkeit pochend. Für Christian von Alvensleben selbst ist es ganz einfach: Fotografie ist mein Leben und mein Leben ist Fotografie.
Die Deutsche Fotothek blickt auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. Sie ist heute eines der wichtigsten Bildarchive in Europa mit einem Bestand von rund sieben Millionen Fotografien und einem Online-Angebot von über zwei Millionen Bildmedien, ein zentraler Ort für die Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des fotografischen Erbes. Ihre vordringlichste Aufgabe ist die Erhaltung, die fachgerechte Archivierung und die Präsentation der Lebenswerke bedeutender deutscher Fotografinnen und Fotografen. Mit ihrem ARCHIV DER FOTOGRAFEN entwickelt die Deutsche Fotothek gemeinsam mit der Stiftung F. C. Gundlach seit 2012 eine Perspektive für eine verlässliche und dauerhafte Zukunft fotografischer Archive – von bekannten Fotografinnen und Fotografen und solchen, die neu oder wieder zu entdecken sind. Ziel ist die Sicherung und Aktivierung von Zeugnissen der analogen und digitalen Fotografie durch Online-Präsentation, Ausstellungen und nicht zuletzt durch die regelmäßige Herausgabe von Publikationen. Der vorliegende Band ist nicht nur einem der prominentesten und international erfolgreichsten Fotografen in der Deutschen Fotothek gewidmet, sondern will auch der besonderen Rolle Reverenz erweisen, die Christian von Alvensleben, geb. 1941 in München, und seine Frau Helga, geb. 1948 in Wedel, für die Entwicklung der Sammlung gespielt haben: Sie waren, ermutigt von F. C. Gundlach, die ersten, die sich entschlossen haben, ihr fotografisches Lebenswerk in das ARCHIV DER FOTOGRAFEN einzubringen. Mit Übergabe der ersten 371 Diapositive wurde 2013 die sukzessive Übernahme des Archivs Christian und Helga von Alvensleben vereinbart. Bislang vorhanden sind 760 Fotografien aus verschiedenen Ausstellungsprojekten sowie weitere rund 1000 Aufnahmen aus den STORIES, die Christian und Helga von Alvensleben in den letzten Jahren zusammengestellt haben. Hinzu kommen rund 1300 Druckbelege, die – mittlerweile vollständig digitalisiert – in Form hunderter laminierter Anzeigenmotive, redaktioneller Zeitschriften-Beiträge sowie von Booklets und Broschüren aus dem Zeitraum von 1969 bis 2004 den Blick auf die Gebrauchskontexte der Fotografien öffnen, vor allem aber die ästhetische Qualität und die visuelle Kraft dieser Aufnahmen offenbaren, die den in eigenem Auftrag entstandenen Arbeiten in nichts nachstehen. Eine dieser STORIES ist zwei Shootings mit dem Model Gerd Tinglum von 1972 gewidmet, aus denen eine Aufnahme hervorgegangen ist, die unter dem Titel DER SONNENSCHEIN als Anzeigenmotiv für FUJI FILM weltberühmt wurde. Im gleichen Jahr lernte Christian von Alvensleben Helga Rehberg, seine spätere Ehefrau, kennen, die nach einer Ausbildung im grafischen Gewerbe, die sie als Bundessiegerin abschloss, in der BRIGITTE-Redaktion bei Gruner & Jahr arbeitete. Die beiden wurden nicht nur privat, sondern auch beruflich ein Paar. Sie verließ die Redaktion, um fortan mit Christian von Alvensleben zu arbeiten. Bekannt wurden sie durch gemeinsame Produktionen für Editorial und Werbung, vor allem in den Bereichen Architektur, Interior, Mode, Beauty, Food, People und Stills. Ihre Arbeiten für internationale Werbeagenturen und Verlage Archiv und Imperativ von Jens Bove
erschienen über mehrere Jahrzehnte u. a. in DER FEINSCHMECKER, FAZ, GEO, MERIAN, DER SPIEGEL, VANITY FAIR und vor allem in STERN und VOGUE. Ihre freien Arbeiten – seit 2006 widmen sich beide ausschließlich gemeinsamen eigenen Projekten – sind seit den 1990er Jahren regelmäßig national und international in Ausstellungen gezeigt worden und mündeten vielfach in erfolgreiche Buchprojekte. Klaus Tiedge hob 2009 in seiner Laudatio anlässlich der Ehrenmitgliedschaft Christian von Alvenslebens im Berufsverband Freie Fotografen und Filmgestalter (BFF) hervor: Mehr noch als die Langfristigkeit seines kreativen Schaffens beeindrucken die Vielseitigkeit und das außergewöhnliche Niveau. Dieser Fotograf macht alles – und was viel wichtiger ist: Er kann alles. Das Herausragende an seinem Werk sind die intelligenten Effekte, der erfrischende Esprit und die geistreichen Pointen. Mit bewundernswerter Risikobereitschaft werden bei ihm selbst aus profanen Sujets und Motiven sehenswerte visuelle Kreationen. Basis für jede umfassende Werkschau ist das Eintauchen ganz tief in das Archiv. Und schon erste Blicke zeigen, dass es sich bei Christian und Helga von Alvensleben tatsächlich um wahre Allrounder handelt, die in perfekt eingespielter Zusammenarbeit fließend zwischen Auftrag und freier Arbeit, zwischen Werbung und Mode, Reportage und Essay wechseln können. Dieses Phänomen spiegelt sich auch in der thematischen und ästhetischen Vielfalt ihrer zu STORIES zusammengestellten Serien, die neben jüngeren Arbeiten höchst aufschlussreich auch auf frühere Aufträge rekurrieren, sodass diese Online-Veröffentlichungen quasi den Beginn einer forcierten Auseinandersetzung mit dem eigenen Archiv markieren. So erweitert HARRY’S BAR beispielsweise eine 1976 für DER FEINSCHMECKER entstandene Dokumentation über das gleichnamige Restaurant in Venedig, FROM THE HAUDENOSAUNEE TERRITORY TO THE HOPI PROPHECY ROCK vertieft eine USA-Reportage für den STERN von 1977. In COOKING. TWO PLANETS, TWO WORLDS setzen Christian und Helga von Alvensleben ihre elaborierte Food-Fotografie für die VOGUE in Kontrast zu ihren eher deftigen Aufnahmen für den STERN, dazwischen platzieren sie neu entstandene Serien wie DAS WEISSE GOLD VON APULIEN von 2023. Für die Fortschreibung dieser Arbeit mit dem Archiv in Buchform wurde ein gegenläufiger, weniger systematischer Ansatz gewählt, der einen beeindruckenden Bogen von der frühen Serie DIE SPUR DES LEOPARDEN (1963) bis zur jüngsten Arbeit ILLUSION (2024) schlägt und das gesamte, gleichermaßen von Zeitgeist und Gesellschaftskritik geprägte Schaffen in den Blick nimmt. Auswahl statt Vertiefung war die Herausforderung, und so wird der erzählende Rückblick ihrer STORIES hier zum unwiderstehlichen visuellen Imperativ: Mit LOOK! liegt nun die erste und lange überfällige Retrospektive des überaus bemerkenswerten Lebenswerkes von Christian und Helga von Alvensleben vor.
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