Welche Bilder wählt man für einen Bildband, wenn man auf ein reichhaltiges fotografisches Lebenswerk zurückgreifen kann, das mehr als sechs Jahrzehnte umspannt, aber nur 300 Buchseiten zur Verfügung stehen? Christian und Helga von Alvensleben haben diese Herausforderung mit bemerkenswerter Leichtigkeit gemeistert. Gemeinsam haben sie eine sehr persönliche Auswahl wunderbar vielseitiger Motive getroffen – getragen von einem klaren Konzept: Keine schlichte Chronologie, kein linearer biografischer Abriss sollte es sein, stattdessen starke Einzelbilder und Serien, gegliedert in sieben assoziative Kapitel. Wie sorgsam arrangierte Blumensträuße stiften diese Kapitel neue Zusammenhänge. Unter den Überschriften Stilles Leben, Stil, Zu Tisch, Land und Leute, Gesichter, Genuss mit Respekt, Orte der Dichter und Die Erde und der Mensch entführen uns die beiden auf eine Reise in die Ästhetik und Geschichte der Fotografie – und in ihre ganz eigene Bilderwelt. Jedes einzelne Bild ist überraschend, und doch drückt sich in jedem die individuelle Bildsprache Christian von Alvenslebens unverkennbar aus. Die Zusammenstellung der Bilder zu Werkgruppen macht zudem die künstlerische Haltung der beiden sichtbar und zeigt thematische und ikonografische Linien auf, die sich durch das gesamte Schaffen der beiden ziehen: die Liebe zum Detail, den gekonnten Umgang mit Licht, den hohen Anspruch an sich selbst und an die Fotografie, den Respekt für den Menschen und für die Formensprache der Natur. Lange bevor ich Christian und Helga von Alvensleben persönlich begegnete, hatten sie mir mit ihren Fotografien schon Geschichten erzählt: Den Camel-Mann schickten sie auf abenteuerliche Reisen – immer mit dem charakteristischen Loch in der Schuhsohle, das er sich auf wilden Pfaden im Dschungel oder in der Wüste erlaufen hatte. Oder sie fotografierten vibrierende Szenen schöner Menschen in knackig engen Mustang-Jeans, tanzend in coolen Diskotheken und an blauglitzernden Pools. Es steckte immer viel mehr in den Bildern, als man mit bloßem Auge sehen konnte! Bei F. C. Gundlach begegnete ich Christian von Alvenslebens DAS APOKALYPTISCHE MENU, einer großformatigen Kassette mit beunruhigenden Stillleben, von einem abgetrennten Kalbskopf bis zu einer plattgefahrenen Milchkanne. Schon damals wurde sie deutlich, diese scheinbar mühelose Balance zwischen unterschiedlichen fotografischen Sphären, die mich bis heute fasziniert. Und so freut es mich besonders, dass das gemeinsame Lebenswerk des kreativen Paares in der Deutschen Fotothek Dresden im ARCHIV DER FOTOGRAFEN bewahrt und mit dem vorliegenden Buch ein Überblick über ihr Schaffen gegeben wird. Tatsächlich war Christian von Alvensleben über die Jahre in vielen fotografischen Genres erfolgreich. Ob Mode, Food, Reportage, Still, Landschaft, Portrait – immer wieder gelang es ihm, mit einem feinen Twist oder einer überraschenden Perspektive Motive zu schaffen, die bleiben: Plastikmüll aus dem Meer, wie glitzernde Juwelen im Studio inszeniert. Eine blaue Badekappe als Steak-Ersatz auf einem Designertisch von Thomas Wendtland. Oder ein üppiges Früchtebuffet, kunstvoll arrangiert in einem ausgebrannten Reisebus bei Nassau auf den Bahamas. Mit feinem Gespür nutzt Christian von Alvensleben die besonderen Qualitäten des Lichts im Studio ebenso wie auf den sonnenverbrannten Lavafeldern Lanzarotes oder in den saftig grünen Parklandschaften Norddeutschlands. Zudem hat er einen unverwechselbaren fotografischen Blick und den Kopf voller Ideen. Seine Inszenierungen wirken oft fast architektonisch, auch verspielt arrangierte Motive ruhen in sich durch ihre formale Strenge. Grundlage der kreativen Arbeit ist die meisterhafte Beherrschung der Fototechnik, die ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen ist: Wenn ich mit der Großbildkamera fotografiert habe, bei gedimmtem Licht, mit Auslöser, hingeguckt und geblitzt, dann habe ich die Augen zugemacht – das Bild auf der Netzhaut bleibt ein paar Sekunden stehen –, und dann habe ich schon gesehen: Das Bild ist gut. Seit Beginn der 1970er Jahre entstanden seine Bilder in enger Zusammenarbeit mit Helga von Alvensleben, die für ihn künstlerische Muse ist, Stylistin und Sparringspartnerin im kreativen Prozess. Beide sind detailversessen und anspruchsvoll, von der Idee bis zur Veröffentlichung. Wir ticken gleich, beschreibt Helga von Alvensleben diese enge Verbindung: Wenn Christian unterwegs war, irgendwo fotografiert hat, dann habe ich schon die nächsten Shootings vorbereitet. Und wenn Christian zurückkam, sagte er: Genau so! Und ihr Mann ergänzt: Wir wussten immer schon, wie das Bild aussieht. Und dann haben wir überlegt: Wie kommen wir dahin? Auf die Frage, welcher Anteil seiner Fotografien so ‚frei‘ entstanden sei, gibt Christian von Alvensleben die wunderschöne Antwort: 100 Prozent! Seine frischen Einfälle und seine Experimentierfreude waren ja gerade das, was Agenturen und Redaktionen an seiner Fotografie schätzten, und so boten sie ihm absolute Freiheit im Rahmen ihrer Aufträge – oder sie mussten damit rechnen, dass ihr Auftrag abgelehnt wurde. Um diese souveräne Leichtigkeit zu erreichen, scheuen die beiden keinen Aufwand. Für die Illustration zu einem Bericht über Herztransplantationen im STERN wollten sie beispielsweise zunächst historische Wachs-Nachbildungen menschlicher Organe aus dem 17. Jahrhundert aus einer anatomischen Sammlung in Italien entleihen. Als das scheiterte, reisten sie kurzerhand nach Amsterdam, wo Gunther von Hagens ihnen ein echtes, plastiniertes Menschenherz zur Verfügung stellte. Inszeniert auf rotem Samt wurde es neben dem technischen
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