Leseprobe

35 Goethe und seine Münzsammlung allem die starke Bombardierung für wachsende Spannungen zwischen den Einwohnern und dem französischen Generalstab, der praktisch die Macht übernommen hatte. Am 13. Juli wurde das Kriegsrecht verhängt, was die Unzufriedenheit der Bevölkerung noch vergrößerte. Nach dem Ausbleiben einer Entsatzarmee nahm der Generalstab am 17. Juli mit den Belagerern Verhandlungen auf, am 23. Juli erfolgte die Kapitulation. Während der Belagerung konnten die Franzosen anfangs noch Kupfermünzen prägen lassen, zum Teil aus eingeschmolzenen Kirchenglocken. Da man aber allein für Soldzahlungen täglich zwischen 15 000 und 20 000 Livre benötigte, ging das Metallgeld schnell zur Neige. Man führte sogenannte Assignaten ein, Papiergeldscheine, die allerdings auf große Ablehnung stießen und sehr häufig gefälscht wurden. Der Wert dieser Assignaten sollte den Besitzern nach Ende der Belagerung in Metallgeld eingetauscht werden. Nach der Kapitulation wurde den Bewohnern von Mainz 24 Stunden Zeit gegeben, die Belagerungsscheine beim Kriegszahlmeister zur Einlösung vor- zulegen, was natürlich nur einem Bruchteil der Menschen gelang. Der Rest blieb auf den Scheinen sitzen und erlitt zum Teil katastrophale finanzielle Verluste. Die gesamte Belagerungsgeschichte traf Goethe ganz persönlich: Auf Seiten der Preußen stand auch Carl August von Sachsen-Weimar-­ Eisenach (1757–1828), der als seinen persönlichen Kriegsberichterstatter Goethe selbst im Aufgebot hatte. Er notierte die ersten Tage fleißig seine Beobachtungen, zwei Monate später hörte er allerdings schlagartig damit auf. In einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) schrieb er: »Gerade das, worauf alles ankommt, darf man nicht sagen.«14 Es scheint also eine Art Zensur gegeben zu haben, die dem Dichter die Lust an der Arbeit verdarb. Seine Beobachtungen zur Belagerung von Mainz in Form eines fiktiven Tagebuchs schrieb er erst in den Jahren von 1819 bis 1822.15 In diesen Beobachtungen erwähnte er das Notgeld und die Assignaten nicht, jedoch finden sich im Faust II zahlreiche Wiederklänge seiner Abneigung gegenüber dieser Form des Geldes.16 So ließ er hier Faust und Mephistopheles Papiergeld für den Kaiser erschaffen, das dieser dringend benötigt, um die Staatsschulden zu begleichen. Die fertigen Banknoten werden im Stück vom Kanzler des Kaisers mit folgenden Worten vorgestellt: »Zu wissen sei es jedem ders begehrt: / Der Zettel hier ist tausend Kronen wert.«17 Der darauf aufbauende Plot demonstriert ein tiefes Unbehagen und die Abneigung Goethes gegenüber diesem neuen Zahlungsmedium. In seiner Sammlung jedoch finden sich mehrere Sets der Belagerungsmünzen (Abb. 7).18 Es muss unklar bleiben, ob es sich hierbei um Stücke handelt, die er vor Ort erstanden hat, oder ob er sie erst zu einem späteren Zeitpunkt zu seiner Sammlung hinzugefügt hat. Dass die Belagerung auch schon vor der Arbeit an seinem Buch im Hause Goethe Thema war, erfahren wir von Goethes Sohn August (1789–1830), der seinem Vater 1808 von einem Ausflug nach Kastel bei Mainz schreibt: »[...] da fiel mir, indem ich die Gegend betrachtete die gute alte Zeit ein in welcher Sie bester Vater mit vor Mainz lagen.«19 Offenbar hatte der Vater seinem Sohn von seiner Teilnahme an der Belagerung erzählt. Leider können wir bislang nicht nachweisen, ob die Münzen bei diesen Erzählungen eine Rolle gespielt haben. 30 Silberlinge Auch bei diesem mit Religion verbundenen Thema ist man allein auf die Aussagekraft der Münzen in Goethes Sammlung angewiesen. Matthäus 26, 14–16 schreibt: »Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohepriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie boten ihm dreißig Silberstücke. Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern.« 7 · 5 Sol, 1793, KSW, Museen, GMM-3883

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