Leseprobe

36 • 37 Hans Tichas Kunst – ein Destillat? Der Künstler – ein Monteur von Versatzstücken? Die Probe auf das heikle Exempel verwehrt dieser »redliche Rebell«8 nicht. Sitzt man dem Maler im persönlichen Gespräch gegenüber und versucht, die proklamierten Herkünfte seines bildkünstlerischen Werkes Phase für Phase gemeinsam durchzugehen, wird man von seiner Offenheit schnell entwaffnet. Dies betrifft auch solche Fragen, die andere Künstler schnell als Zumutung missverstehen. In lakonisch-präzisen Kurzkommentaren verhilft Ticha dem Fragesteller stattdessen bald schon zur geteilten Gewissheit, mit formfesten Kausalketten und widerspruchslosen Interpretationen das Ziel eines Zugangs prinzipiell zu verfehlen. Dabei leugnet der Künstler keinesfalls die ihm zugeschriebenen Seh- und Lektüreerfahrungen sowie deren Rückwirkungen auf das eigene Werk. Der russische Konstruktivismus habe ihn beispielsweise sehr interessiert, auch die konstruktiv-urbanistische Bildsprache von Fernand Léger, die Magie des Bauhaus-­ Kosmos ohnehin. Von der Pop-Art ganz zu schweigen, die ihm in der DDR zum Arsenal einer wirkkräftigen Methodik werden sollte, mit der er seine unmittelbar-konkreten Lebenserfahrungen zum Ausdruck brachte.9 Ein gravierender Unterschied bleibt aber bestehen: Die Pointe der aufgeführten Resonanzen besteht nicht in der Adaption, sondern darin, dass diese gewissermaßen auf einer negativen Dialektik des Künstlers gründen. Was heißt das? Da die Originale an den Wänden der ostdeutschen Kunstmuseen fehlten und Hans Ticha im Verband Bildender Künstler das Privileg einer Westreise verwehrt blieb, mussten als Secondhand-Erweckungen ausgerechnet ideologisch imprägnierte DDR-Publikationen herhalten. Es handelte sich um eine der maßgeblichen Paradoxien des Landes, dass zum Ende seines Bestehens mit einigem Recht als »DaDaEr« erschien: Jene Publikationen verfemten die Kunst, zu der sich der Künstler hingezogen fühlte, was ihn aber nicht daran hinderte, im Umkehrverfahren seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Im Rückblick des Malers waren es drei sachliterarische Lektüren, die anstelle verhinderter Seherlebnisse seinen Weg nachhaltig verändern sollten. An diese kann sich der »Buchmensch« Hans Ticha noch sehr präzise erinnern:10 Das erste Buch war ein sowjetischer Gesamtverriss der westlichen Moderne – Michael Lifschitz’s Krise des Hässlichen, eine 1971 im Dresdner Verlag der Kunst erschienene Generalabrechnung mit Kubismus bis Pop-Art. Diese sozialistische Schmähschrift enthielt neben dem unverdaulichen Text kleinformatige, schlecht gedruckte Schwarz-Weiß-Werkabbildungen von Andy Warhol, Tom Wesselman und R. B. Kitay. Die kleinrastrigen, teils unscharfen Reproduktionen machten es dennoch möglich, dass Ticha, in Verkehrung der pädagogischen Absicht des Druckwerkes, daraus seinen subversiven Honig zog. Bei der zweiten Lektüre, so der Künstler, handelte es sich um einen durch die Deutsche Akademie der Künste gegen die DDR-Druckzensur durchgesetzten 96-seitigen Band über den Franzosen Fernand Léger. Herausgegeben von Heinz Lüdecke, erschien dieser 1967 wiederum im Verlag der Kunst. Der dritte Text, an dem sich der Künstler aufrichtete, weil die Abbildungen ihn faszinierten, wurde als Reportagestück in der in Millionenauflage erscheinenden Wochenzeitschrift Neue Berliner Illustrierte (NBI) gedruckt – ein Bericht über die Kunst Richard Lindners. Überhaupt kann Lindner, der in Deutschland als Werbegrafiker begann, als Jude in die USA emigrierte und seit Ende der 1940er-Jahre dort sein malerisches Werk entfaltete, als wesentlicher Impulsgeber für die bereits genannten Pop-ArtKünstler der DDR gelten, auch weil er eine Halbdistanz zur kunstbetrieblichen Vermarktung einnahm ➋: »Ich bewundere diese Pop-Art-Künstler«, so Lindner, »aber ich gehöre nicht zu ihrer Schule.«11 Verbindet man die klar konturierten Lebenslinien Hans Tichas mit seinen künstlerischen Resonanzbeziehungen, kann man das spezifische Milieu der Ost-Berliner Malerei nicht außer Acht lassen. Im Gegensatz zur Leipziger Schule, die genealogisch, emotional und institutionell an die dortige Hochschule für Grafik und Buchkunst gebunden war, hielt die sich als Berliner Schule verstehende Gruppe von Malern, Grafikern und Bildhauern einen rigorosen Abstand zur OstBerliner Kunsthochschule in Berlin-Weißensee. Alternativ entfaltete sie sich in den urbanen Stadträumen Ost-Berlins, vor allem im Prenzlauer Berg, der dem Kunstschriftsteller Lothar Lang deshalb als »Berliner Montmartre« erschien.12 Auf den Gruppen­

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