M Skulpturensammlung Dresden
Myron. Ein bedeutender griechischer Bildhauer der hochklassischen Epoche Skulpturensammlung Dresden Sascha Kansteiner
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Inhalt 8 Vorwort 10 Einleitung 12 Myron Katalog 26 1 Statuengruppe von Athena und Marsyas 32 2 Statue der Athena 34 3 Statue des Hermes 38 4 Statue des Erechtheus 42 5 Statuette des Herakles 48 6 Statue des Herakles 52 7 S tatue des Perseus 56 8 Statue des Tydeus 58 9 Statuengruppe von Heroen 62 10 Statue eines unbekannten Athleten (Diskobol) 68 11 Statue eines unbekannten Athleten (Amelungscher Athlet) 74 12 Statue eines unbekannten Athleten 78 13 Statue einer jungen Kuh 83 Appendix 87 Anmerkungen 94 Glossar 95 Literatur 96 Impressum
9 Obwohl von den Bronzeskulpturen Myrons, der zwischen 480 und 440 v. Chr. in Athen tätig war, keine einzige erhalten ist, darf er als einer der wichtigsten Bildhauer der hochklassischen Zeit gelten. Von der herausragenden Qualität seiner Werke geben nämlich antike Marmorkopien eine recht genaue Vorstellung. Deren Zusammenschau, die sog. Kopienkritik, erlaubt es in vielen Fällen, das jeweils zugrunde liegende Original zu rekonstruieren. Die Dresdner Skulpturensammlung besitzt seit 1899 einen meisterhaften Marmorkopf der Göttin Athena, eine der vielen Erwerbungen antiker Skulpturen, die auf die Initiative des damaligen Sammlungsdirektors, des Klassischen Archäologen Georg Treu, zurückgehen. Nur wenige Jahre nach dem Ankauf des Kopfes stellte sich heraus, dass es sich bei ihm um das Überbleibsel einer im 1. Jh. n. Chr. entstandenen Kopie von Myrons Athena-Marsyas-Gruppe handelt. Das nicht mehr erhaltene, wohl in nachantiker Zeit eingeschmolzene Bronzeoriginal muss, da es Pausanias bei seiner Beschreibung der Akropolis von Athen erwähnt, im Altertum berühmt gewesen sein. Nicht minder bekannt war der in zahlreichen Kopien überlieferte, von Plinius und Lukian erwähnte Diskuswerfer. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der nackte Athlet beim Innehalten in der Ausholbewegung, unmittelbar vor dem Abwurf der Scheibe also, dargestellt ist. Die spannungsvoll gebückte Körperhaltung der Figur ist überaus suggestiv und hat zu deren umfangreicher Rezeption in Antike und Nachantike beigetragen. Der Diskuswerfer und andere Werke Myrons sind in der Dresdner Sammlung in Gestalt von Gipsabgüssen nach Kopien aus der römischen Kaiserzeit gegenwärtig. Dem Autor des Bandes, Sascha Kansteiner, ist es gelungen, das Œuvre Myrons durch kritischen Vergleich und ebenso präzise wie einfühlsame Beschreibung anschaulich vorzustellen. Zugleich gibt er der Erforschung der klassischen griechischen Skulptur, anknüpfend an seine 2023 erschienene Monographie über Polyklet, neue Impulse. Ihm gilt mein Dank, ebenso dem Sandstein-Verlag für die umsichtige Betreuung und Gestaltung der Publikation sowie Jörg Deterling für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und für wichtige inhaltliche Anregungen. Myrons Skulpturen folgen beschreibbaren Idealen. Dennoch wird in der antiken Literatur stets ihr Realismus hervorgehoben. Von Myrons bronzener Kuh etwa heißt es, sie sei so täuschend echt wiedergegeben, dass man meine, sie müsse gleich fortlaufen oder muhen. Ein in der Anthologia Graeca (Buch 9, Nr. 736) überliefertes Gedicht nimmt darauf Bezug: »Ach, Myron! Du warst beim Formen nicht schnell genug. Die Bronze kam Dir vielmehr zuvor: Ehe du ihr Leben einflößen konntest, wurde sie fest.« Vorwort Holger Jacob-Friesen Leon Pohle: Bildnis Georg Treu Öl auf Leinwand, 1901 Dresden, Albertinum, Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2917
11 Einleitung Einen Kernbereich der Dresdner Skulpturensammlung bilden Statuen, Statuetten und Büsten, die antike Bildhauer in der Zeit vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis zum späten 4. Jh. n. Chr. geschaffen haben. Innerhalb dieses weiten zeitlichen Rahmens kommt den Schöpfungen aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr. eine herausragende Rolle zu, denn es sind vornehmlich die Werke aus der Blütezeit der griechischen Bildhauerkunst (Hochklassik und Spätklassik), die nicht nur in Texten antiker Autoren Erwähnung gefunden haben, sondern auch in Gestalt von Abgüssen in vielen Kopistenateliers in hellenistischer und in der römischen Kaiserzeit zugegen waren und dort vervielfältigt worden sind. Nachdem im vorausgehenden Band dieser Reihe das Schaffen des argivischen Bildhauers Polyklet ausführlich vorgestellt worden ist, soll es hier um einen ähnlich berühmten und gleichfalls im 5. Jh. v. Chr. tätigen griechischen Bildhauer gehen: Myron. Dank der Bestimmung eines Bildwerks als Kopie des von ihm geschaffenen Diskuswerfers (Kat. 10) konnte man sich vom Können dieses Mannes seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine gewisse Vorstellung verschaffen, mithin lange Zeit bevor es Karl Friederichs – im Jahr 1863 – gelang, erstmals ein Werk Polyklets, den Speerträger, im Bestand an römisch-kaiserzeitlichen Kopien nachzuweisen. Anders als es bei Polyklet der Fall ist, sind sich, soweit man heute weiß, Myrons Skulpturen indes einander nicht so ähnlich gewesen, dass im Anschluss an die Identifizierung seines Diskuswerfers die Möglichkeit bestanden hätte, weitere Kopien nach Werken Myrons, von denen in antiken Schriftquellen die Rede ist, in der materiellen Überlieferung nachzuweisen. Erst im frühen 20. Jahrhundert kam man mit der Identifizierung der Athena-Marsyas-Gruppe (Kat. 1), die Pausanias im 2. Jh. n. Chr. auf der Akropolis von Athen gesehen hat, einen bedeutenden Schritt weiter. Und während die ungefähr zur gleichen Zeit zu Polyklet angestellten Überlegungen schon damals ein durchaus geschlossenes Bild von dessen Œuvre erbracht haben, ist unsere Vorstellung von der »Handschrift« Myrons bis heute eher vage geblieben. Im vorliegenden Band wird unter besonderer Berücksichtigung von Bildwerken der Dresdner Skulpturensammlung versucht, dem bildhauerischen Vermächtnis Myrons Konturen zu verleihen. Dabei soll vor allem geprüft werden, ob unter den nicht wenigen Werken, die man Myron – in Gestalt von Kopien – zugeschrieben hat, tatsächlich solche sind, die zu den für diesen Bildhauer gesicherten Skulpturen in enger Verbindung stehen. Grundlage der Spurensuche ist ein stilkritischer Vergleich der genannten Skulpturen, dessen Fokus auf einer genauen Betrachtung der Haargestaltung liegt. Wie schon im Band »Polyklet« wird auch hier die im deutschen Sprachraum entwickelte Terminologie verwendet, die sich in der Klassischen Archäologie bei der Analyse von römisch-kaiserzeitlichen Kopien etabliert hat. Haben sich mehrere Kopien einer bestimmten Skulptur erhalten, wird für diese der Begriff »statuarischer Typus« oder, wenn nur der Kopf überliefert ist, der Begriff »Kopftypus« verwendet, die beide stellvertretend für das »Original« gebraucht werden können. Da es häufig, etwa bei den Kopien nach Statuen siegreicher Athleten, nicht möglich ist, den Dargestellten zu benennen, und da wir auch bei der Mehrzahl der Statuen von Gottheiten und Heroen die ursprüngliche Werkbezeichnung nicht kennen, ist man in der Regel gezwungen, einen statuarischen Typus mit einer behelfsmäßigen Bezeichnung zu versehen (Apollon Typus Kassel). Dieses Verfahren hat sich bereits in der Antike bewährt, etwa um den Dargestellten anhand der von ihm vollführten Aktion zu charakterisieren (Diskobol). Unbekannter Schreiber: Anthologia Palatina, Ausschnitt (p. 476); Pergament, 10. Jahrhundert Heidelberg, Universitätsbibliothek, Codex Palatinus graecus 23
13 Myron Myron (griech. Μύρων) stammte aus der Ortschaft Eleutherai, die in Attika liegt, und zwar im Grenzgebiet zu Böotien, knapp 40 Luftlinienkilometer von Athen entfernt. Da sein Sohn Lykios bereits um die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. so angesehen war, dass ihn die Einwohner von Apollonia in Illyrien mit der Gestaltung eines großen Weihgeschenks für das Zeusheiligtum von Olympia betraut haben,1 dürfte Myron selbst noch vor 500 zur Welt gekommen sein. Über seine(n) Lehrer sind wir, wie zum Beispiel auch im Fall seines namhaften Zeitgenossen und Kollegen Kalamis, schlecht informiert; vielleicht ist er in seiner Jugend tatsächlich, wie Plinius zu berichten weiß, bei dem Bronzegießer Ageladas d. Ä. (auch: Hageladas) in die Lehre gegangen.2 Er mag aber auch durch die bedeutende äginetische Bildhauerschule geprägt worden sein, da in der von ihm geschaffenen Hekate, die Pausanias auf seiner Griechenlandreise in Ägina gesehen hat,3 mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Frühwerk zu erkennen ist. Welcher Art die im Anschluss an seine Ausbildung sowie die während seiner mittleren Schaffensphase entstandenen Werke gewesen sind, entzieht sich unserer Kenntnis: Die Werke, zu deren Datierung Informationen vorliegen – es handelt sich um die Statuen der Olympiasieger Lykinos und Timanthes4 –, oder die aufgrund einer stilkritischen Analyse datiert werden können (Diskobol und Athena-Marsyas-Gruppe), gehören alle in Myrons späte Schaffensphase, mithin in die Zeit um 450 v. Chr. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Myron noch nach 440 v. Chr. Skulpturen kreiert hat.5 Myrons Tätigkeit verteilt sich auf viele verschiedene Orte, darunter etliche bedeutende Heiligtümer, etwa die Akropolis von Athen, das Heraheiligtum von Samos und das Zeusheiligtum in Olympia. Einen Schwerpunkt seines Schaffens bilden, wie auch im Fall seines Zeitgenossen Pythagoras,6 Statuen siegreicher Athleten, die in Olympia und in Delphi zur Aufstellung gelangt sind. In einem Schulpapyrus späthellenistischer Zeit wird Myron deshalb zusammen mit Lysipp, Polyklet und Phyromachos zu den bedeutendsten »Menschenbildnern« gezählt.7 Einen zweiten Schwerpunkt stellen offenbar Statuen von Heroen dar: Für Myron sind Skulpturen des Herakles, Perseus, Erechtheus und Tydeus bezeugt. Zum Œuvre Myrons zählen außer Bronzestatuen in Lebensgröße auch Kolossalstatuen – es handelt sich um eine Dreifigurengruppe, die im Heraheiligtum von Samos zur Aufstellung gelangt ist8 – sowie wohl auch ein kleinformatiges Werk, eine Statuette des Herakles (Kat. 5). Ob er außer der berühmten Kuh noch weitere Bildwerke geschaffen hat, über deren Sujet wir uns heute bei einem Schöpfer von opera nobilia eher wundern, ist durchaus unsicher.9 Mit einer – nicht gesicherten – Ausnahme, dem möglicherweise aus Holz gearbeiteten Bildwerk der Göttin Hekate,10 ist Myron ausschließlich als Bronzegießer bezeugt. Aus der häufigen Nennung in den Schriftquellen, oft zusammen mit Phidias und Polyklet, geht hervor, dass Myron eine der zentralen Künstlerpersönlichkeiten des 5. Jhs. v. Chr. gewesen ist. Er gehört zudem ebenso wie Kritios und Nesiotes, die Schöpfer der Tyrannenmördergruppe, zu den wenigen Bildhauern aus der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr., von deren »Handschrift« sich anhand von römisch-kaiserzeitlichen Kopien eine gewisse Vorstellung gewinnen lässt. Zwei Werke sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: die Athena-Marsyas-Gruppe (Kat. 1) und der DiskusAbb. 1–2 Unbekannter Bildhauer: Kopie des myronischen Diskuswerfers, sog. Diskobol Lancellotti, Details Parischer Marmor, 2. Jh. n. Chr. Rom, Palazzo Massimo alle Terme, Inv. 126371
14 werfer (Kat. 10). Diese beiden Schöpfungen sind nicht nur durch gleich mehrere Kopien bezeugt, von denen einige annähernd vollständig erhalten sind. In beiden Fällen ist darüber hinaus auch der Bezug zwischen den Kopien und dem jeweiligen Original, das in der römisch-kaiserzeitlichen Literatur Erwähnung gefunden hat, gesichert. Beide Werke geben zudem Aufschluss über ein Alleinstellungsmerkmal von Myrons bildhauerischem Schaffen. Denn hier wie dort lässt sich feststellen, dass Myron daran gelegen war, in seinen Bildwerken Handlungsstränge zusammenzuführen bzw. Handlungsabläufe zu verdichten. Athena steht noch neben Marsyas, obwohl sich dieser erst zu einem Zeitpunkt für das Musikinstrument zu interessieren beginnt, als die Göttin den Schauplatz des Geschehens bereits verlassen hat. Noch eindrucksvoller gelingen Myron Zeitsprünge bei seiner berühmtesten Einzelfigur, dem Diskobol (Abb. S. 62). Auch wenn der Athlet im Rahmen der von ihm vollführten Aktion des Ausholens zum Wurf gerade den Moment konzentriertester Ruhe erreicht hat, befindet sich sein zur Seite ausschwingendes männliches Glied schon in Bewegung (Abb. 2),11 als solle dadurch darauf hingewiesen werden, dass es bei der ganzen Figur im nächsten Moment zu einer äußerst heftigen, rotierenden Bewegung kommen wird, die auch mit dem Abwerfen der Flugscheibe noch nicht an ihr Ende gelangt sein wird. Im denkbar größten Gegensatz zur Bewegung des Gliedes stehen die übrigen Haltungsmotive, mit denen Myron, dem Austarieren einer Balkenwaage nicht unähnlich, den Ruhezustand vor dem Abwurf ins Bild gesetzt hat. Wohl um den Augenblick größtmöglicher Ruhe noch zusätzlich zu betonen, hat Myron ein weiteres Körperteil in eine Position gebracht, in die es beim Ausholen zum Wurf gar nicht gelangen kann (Abb. 1): Der linke Fuß berührt den Boden nicht, wie es zu erwarten wäre, mit dem Ballen und den Zehen, sondern mit der Oberseite einiger Zehen, ein Motiv, das an ein Sich-zur-Ruhe-Betten erinnert. Den Eindruck des Stillstands, aber auch denjenigen größter Konzentration vermittelt zudem auch der rechte Fuß, dessen Zehen voller Anspannung an den Boden gepresst zu sein scheinen.12 Außer den kompositorischen Besonderheiten in Myrons Schaffen ist uns auch bekannt, wie zwei weitere seiner Statuen gestanden haben. Sie sind offenbar in sekundärem Zusammenhang in Pergamon zur Aufstellung gelangt, wo man in den Jahren 1879 und 1880 wenigstens ihre Basisblöcke entdeckt hat (Abb. 3). Diese enthalten auf der Vorderseite die folgende Angabe: »Myron aus Theben hat (die Statuen) geschaffen.«13 In der Oberseite der Blöcke befinAbb. 3 Robert Koldewey: Ober- und Vorderseite einer Basis für mehrere Bronzestatuen (Ausschnitt) Umzeichnung, 1888
15 den sich vier Eintiefungen, in denen die Füße der beiden lebens- oder leicht überlebensgroßen Bronzestatuen mit Bleiverguss verankert waren. Ein vergleichbares Standmotiv, bei dem außer dem Fuß der Standbeinseite auch derjenige des Spielbeins mit der gesamten Sohle am Boden ruht, kann für den Hermes (Kat. 3) und den Amelungschen Athleten (Kat. 11) erschlossen werden; beim Herakles Typus Boston- Oxford (Kat. 5) befindet sich der Fuß der Spielbeinseite etwas dichter am anderen. In Myrons Interesse am bewegten Körper und an der Zusammenführung mehrerer Zeitebenen kommt eine Experimentierfreude zum Ausdruck, die auch für viele andere Künstler der Frühen Klassik charakteristisch gewesen zu sein scheint, die aber in der nächsten Generation, während der Hochklassik, wieder in den Hintergrund trat. Damit geht einher, dass Myron anscheinend keine Schüler hatte, die das Kunstschaffen der hochklassischen Epoche geprägt haben. Nur sein Sohn Lykios ist als Schüler bezeugt,14 hat aber keine Werke hinterlassen, die es an Bedeutung mit denen des Vaters aufnehmen könnten, sodass Petrons Aussage, »Myron hat keinen Erben gefunden«, verständlich erscheint.15 Plinius zufolge soll Myron dafür kritisiert worden sein, dass er in der Wiedergabe von Haupt- und Schamhaar nicht über das Formenrepertoire früherer Generationen hinausgelangt sei.16 Die in Kopien erhaltenen Werke, zum Beispiel der Diskobol (Kat. 10), zeigen freilich gerade das Gegenteil. Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wie die antike Kunstgeschichtsschreibung, die Plinius bei der Abfassung seiner Naturalis historia in den 70er-Jahren des 1. Jhs. n. Chr. zu Rate gezogen hat, zu solch einer Fehlbeurteilung gelangt ist. Auch die von Cicero in den 40er-Jahren des 1. Jhs. v. Chr. vertretene Ansicht, Myrons Skulpturen würden »noch nicht nahe genug an die lebendige Wirklichkeit heranreichen«,17 stimmt nicht mit dem überein, was andere Schriftsteller und Dichter von Myron zu berichten wissen. Insbesondere die von ihm geschaffene Statue einer jungen Kuh (Kat. 13) ist die gesamte Antike hindurch gerade wegen ihrer lebensechten Gestaltung immer wieder bestaunt und gerühmt worden. Anlass, sich über die Beurteilung zu wundern, die Myrons Schaffen in der Antike zuteilgeworden ist, bieten auch die Texte anderer Autoren. So erfährt man im Prolog zum fünften der Fabelbücher, die Phaedrus in der frühen römischen Kaiserzeit verfasst hat, dass bestimmte Künstler (artifices) bzw. Fälscher seinerzeit versucht hätten, eigene Werke als diejenigen berühmter Meister auszugeben.18 »Es ist nagender Neid, dass man so viel mehr aufgeputztem Alten nachläuft als den tüchtigen Werken der Gegenwart.« Eigenartigerweise soll es sich bei den Werken, die als »myronisch« in den Handel gebracht wurden, nicht etwa um Skulpturen aus Bronze, sondern um Silbergerät gehandelt haben. Weitere im 1. Jh. n. Chr. verfasste Texte zeigen, dass es die Käufer solcher Objekte damals tatsächlich für möglich hielten, Myron und andere berühmte griechische Bildhauer hätten sich als Toreuten von Gefäßen einen Namen gemacht.19 Forschungsgeschichte Es ist Giambattista Visconti (1722–1784), päpstlicher Oberaufseher aller Altertümer in und um Rom, dem die Erkenntnis verdankt wird, dass der berühmte, unter anderem von Plinius erwähnte Diskobol (Kat. 10) in Kopien erhalten ist. Im Jahr 1781, zehn Tage nach der Entdeckung der ziemlich gut erhaltenen Replik, die sich heute im Palazzo Massimo in Rom befindet (Abb. S. 62), schrieb Visconti, der das Replikenverhältnis zu einem lange bekannten, aber durch die neuzeitlichen Ergänzungen arg entstellten Torso im Museo Capitolino (Abb. 4) erkannt hatte, in einem Brief an Kardinal Pallotta: »Ich prüfte also, ob einer der alten (Schriftsteller) unter den Werken der renommiertesten Bildhauer einen Diskuswerfer erwähnt. Und wirklich fand ich bei Plinius drei berühmte Diskuswerfer, einen des Myron, einen zweiten des Naukydes und einen dritten des Tauriskos.«20 Für die Identifizierung des Diskuswerfers ausgerechnet mit der Statue von der Hand des Myron kommt allerdings einer von Visconti noch nicht in die Betrachtung einbezogenen literarischen Quelle eine maßgebliche Bedeutung zu. In Lukians philosophiekritischem Dialog Die Lügenfreunde oder der Ungläubige, um 170 n. Chr. verfasst, findet sich die folgende Passage:21 »Hast du nicht, sagte Eukrates, beim Hereingehen im Hof eine wunderschöne Statue aufgestellt gesehen, eine Arbeit von Demetrios, dem Menschenbildner? – Du meinst doch, sagte ich, nicht den Diskuswerfer, der sich in der Haltung des Abwurfs gebückt hat, seinen Kopf zu der Hand gewendet, die den Diskus hält, ein Knie leicht gebeugt, wobei er den Eindruck erweckt, dass er sich gleichzeitig mit dem Wurf wiederaufrichten wird? – Nein, sagte er, den nicht; denn das ist ein weiteres Werk des Myron, der Diskobol, von dem du sprichst.«
43 Abb. 1–3 Unbekannter Bildhauer: Statuette des Herakles Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Boston, Museum of Fine Arts (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2225) 5 Statuette des Herakles Zu den Werken, die Myron geschaffen hat, wird seit geraumer Zeit auch ein kleiner Herakles gerechnet, den einige maßgleiche Repliken überliefern. Unter diesen sind zwei fast vollständig erhaltene Marmorstatuetten im Museum of Fine Arts in Boston und im Ashmolean Museum in Oxford, denen der etwa 50 cm große statuarische Typus seinen Namen verdankt: Herakles Typus Boston-Oxford (Abb. 1–4). Die Repliken gehen auf eine nicht mehr erhaltene, sehr wahrscheinlich aus Bronze gefertigte Statuette zurück, die einen muskulösen nackten Mann mit linkem Stand- und rechtem Spielbein zeigte, dessen Füße sich nah beieinander befanden. Die für die griechische Plastik seit dem zweiten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. charakteristische ungleiche Verteilung der Körperlast auf die beiden Beine lässt sich gut an der Schrägstellung des Beckens ablesen. Im Bereich des Rumpfes wird die Schräge durch eine Kontraktion der linken Körperhälfte wieder ausgeglichen, was zur Folge hat, dass die Schulter dieser Seite etwas tiefer positioniert ist als diejenige der Spielbeinseite. Der bärtige Kopf ist deutlich zur Standbeinseite gedreht und außerdem gesenkt. Der rechte Arm ist unterhalb der Armbeuge etwas nach außen gedreht, was es dem Heros erlaubt, die Hand bequem auf der Keule abzulegen, die sich in vertikaler Position und mit dem oberen Abschnitt nach unten gerichtet neben dem Spielbein befindet. Der linke Oberarm ist gesenkt, der Unterarm angewinkelt und vorgestreckt. Die Repliken in Oxford und in Dion (Makedonien) geben zu erkennen, dass Herakles einen Bogen in der linken Hand hielt, welcher sich bei der zuletzt genannten Replik sogar weitgehend erhalten hat.93 Bei den übrigen Attributen, die da und dort auftauchen – ein erlegter Eber, eine Hirschkuh und das Fell des Nemeischen Löwen –, dürfte es sich hingegen um Beiwerk handeln, das sich die Kopisten ausgedacht haben, um auf bestimmte Taten des Herakles anzuspielen. Welche Rolle aber kommt dem Bogen zu, in dessen Richtung Herakles’ Blick geht? Im Unterschied zur Keule taucht er bei den wenigen großplastischen statuarischen Typen des Herakles, denen man in der römischen Kaiserzeit allerorten begegnet,94 gar nicht auf. Da diese statuarischen Typen jedoch ausnahmslos auf Originale zurückgehen, die
44 Abb. 6 Unbekannter Bildhauer: Torso einer Statuette des Herakles; Marmor, 1. oder 2. Jh. n. Chr.; Göttingen, Archäologisches Institut, Inv. Hu 244 Abb. 4 Unbekannter Bildhauer: Statuette des Herakles Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Boston, Museum of Fine Arts (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2225) Abb. 5 Unbekannter Bildhauer: Statuette des Herakles, Detail; Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Madrid, Museo arqueológico, Inv. 33190 erst im 4. Jh. v. Chr. entstanden sind, muss der Bogen beim Herakles Typus Boston-Oxford nicht überraschen. Während Myrons Schaffenszeit ist er, wie beispielsweise aus etlichen attischen Vasenbildern hervorgeht,95 ein gängiges Attribut des Heros gewesen; der Hinweis auf eine der zwölf kanonischen »Taten« – wichtig war der Bogen bestimmten Mythenfassungen zufolge vor allem beim Erlegen der Stymphalischen Vögel – dürfte ihm nicht zu entnehmen gewesen sein. Aufgrund seines Stils wird der Herakles Typus Boston- Oxford in das mittlere 5. Jh. v. Chr. datiert.96 Für eine Zuschreibung des statuarischen Typus an Myron hat sich als erster der aus Dresden stammende Archäologe Paul Arndt (1865–1937) ausgesprochen, dem seinerzeit allerdings nur eine Replik, die heute in Boston befindliche, bekannt war (Abb. 1–4):97 »Es ist vor Allem die Behandlung des Kopf- und Barthaares, die für Myron charakteristisch ist, die kurzen, geringelten, an den Enden zusammengerollten Löckchen; aber auch die Bildung von Stirn und Augen und die Form des Schädels kehren im Besondern an den mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit auf diesen Meister bezogenen Werken wieder.« Dem ist wenig hinzuzufügen; wir werden weiter unten sehen, dass sich die Gestaltung des Bartes insbesondere mit derjenigen des sog. Münchner Königs (Kat. 9) gut vergleichen lässt, der indes nicht als Werk Myrons gesichert ist. Auch die Wiedergabe des Haupthaars findet etliche Entsprechungen bei der Statue in München, nicht hingegen bei dem fest im Œuvre Myrons verankerten Marsyas (Kat. 1). Die Überlieferung des statuarischen Typus zeichnet sich dadurch aus, dass außer den in der Größe übereinstimmenden sechs Repliken in Boston, Dion, Eretria, Göttingen (Abb. 6), Oxford und Rom auch leicht und deutlich verkleinerte Wiederholungen nachgewiesen werden können. Eine Statuette in Madrid wird ursprünglich über eine Größe von
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46 Abb. 7 Unbekannter Gemmenschneider: Herakles (gespiegelt) Karneol (Höhe 1,5 cm), 1. Jh. v. Chr.; München, Staatliche Münzsammlung, Inv. A 1995 Abb. 8 Unbekannter Bildhauer: Torso einer großen männlichen Statue, Detail; Marmor, 1. Jh. n. Chr.; Rom, Centrale Montemartini (hier im Abguss der Universität La Sapienza) nur 36 bis 38 cm verfügt haben.98 Ihr Bildhauer hat das Vorbild in einigen Punkten gravierend modifiziert, allerdings nicht inhaltlich – die Attribute haben sich bei dieser Figur nicht erhalten –, sondern formal: Die Leistenpartie ist deutlich breiter als beim Vorbild, und auch der Bart hat seine charakteristische Form verloren (Abb. 5). Der Haaransatz ist nach unten gewandert, und die Disposition der Locken von Haupt- und Barthaar stimmt nicht mit derjenigen überein, die anhand der maßgleichen Repliken (Abb. 4) für das Original erschlossen werden konnte. Das Madrider Bildwerk bietet somit ein überaus anschauliches Beispiel dafür, dass römisch-kaiserzeitliche Skulpturen, die ohne Zuhilfenahme eines Zirkels (zum Abgreifen bestimmter Distanzen) hergestellt worden sind, in einem durchaus beachtlichen Ausmaß vom jeweiligen Vorbild abweichen konnten.99 Von Myrons Herakles haben sich in der Antike offenbar auch einige Steinschneider inspirieren lassen. Ein aus der Sammlung des bereits erwähnten Archäologen Paul Arndt stammender Karneol in München sowie einige weitere Gemmen zeigen im Miniaturformat einen Herakles, der Myrons Bildwerk überaus ähnlich sieht (Abb. 7).100 Die Gemmenschneider sind zwischen 100 v. Chr. und 200 n. Chr. tätig gewesen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Myrons Herakles überlebensgroß war und dass die maßgleichen Repliken auf ein Zwischenoriginal zurückgehen, das dann seinerseits eine deutlich verkleinerte und vielleicht erst in der römischen Kaiserzeit geschaffene Fassung dargestellt haben müsste. Zwischenoriginale dieser Art hat es sicher gegeben; zu einer gewissen Bekanntheit hat es dasjenige gebracht, dem eine von Polyklet geschaffene und bislang nicht sicher zu benennende großplastische Figur zugrunde liegt.101 Im Fall von Myrons Herakles fehlt bislang freilich eine materielle Grundlage für die Annahme einer großplastischen Fassung. Es lassen sich lediglich einige römisch-kaiserzeitliche Bildwerke nachweisen, die in einer durchaus losen Beziehung zum kleinformatigen Herakles stehen. Anzuführen wären etwa ein Marmorkopf in Kopenhagen, der auf eine lebensgroße Statue aus der Zeit des Strengen Stils zurückgehen dürfte,102 sowie eine imposante, 2,37 m große Heraklesstatue in Cherchel (Algerien).103 Das zuletzt genannte Werk ist wegen seiner Haargestaltung und seines Standmotivs zwar immer wieder als Nachbildung eines Vorbilds aus der Zeit des Strengen Stils gedeutet worden,104 hat aber nicht zuletzt deshalb, weil es von Lippold im 1950 publizierten Handbuch zur griechi
47 Abb. 9 Antonio Lombardo: Wettstreit um Attika; Marmor, um 1508; Sankt Petersburg, Ermitage, Inv. H.CK-1770 schen Plastik übergangen worden ist, nie einen festen Platz in Studien zum griechischen Kunstschaffen gefunden. Im Zusammenhang mit der Frage, ob der hier diskutierte Statuettentypus auf einem großformatigen Vorbild fußt, ist gelegentlich die Ansicht vertreten worden, dass er Bezug neh- me auf einen Herakles kolossaler Größe, der zusammen mit Athena und Zeus ein von Myron geschaffenes und im Heraion von Samos aufgestelltes Ensemble bildete.105 Als besonders attraktiv erschien diese Möglichkeit deshalb, weil die samische Gruppe Strabon zufolge von Marc Anton nach Rom verschleppt worden sein soll. Dort wäre die Herstellung eines erheblich verkleinerten Zwischenoriginals natürlich gut vorstellbar. Da zwei der drei Kolossalstatuen aber schon bald nach ihrem Eintreffen in Rom restituiert worden sind – Zeuge ist wieder Strabon –, und es nicht als plausibel angesehen werden kann, dass man aus einer Dreifigurengruppe nur ein Werk für die Übertragung in kleines Format ausgesucht hat, ist es ratsam, die These von der Teilrezeption nicht weiter zu verfolgen. Auch der Versuch, den Zeus aus der samischen Gruppe in der materiellen Überlieferung auszumachen, ist nicht geglückt. Man glaubte, ihn in Kopie in einem Torso in Rom erkennen zu dürfen.106 Auch wenn dieser Torso tatsächlich zu einer sehr großen, ca. 2,70 oder 2,80 m hohen Statue gehört hat, gibt es keine zwingenden Anhaltspunkte dafür, ihn auf die von Myron geschaffene Kolossalstatue zurückzuführen. Weder die Disposition der Pubes (Abb. 8) noch die Faltengebung der Chlamys des Torsos offenbaren Berührungspunkte zu anderen Skulpturen von der Hand dieses Bildhauers. Nicht einmal die Deutung als Darstellung des Zeus kann als gesichert gelten. Myrons kleiner Herakles hat anscheinend nicht nur während der Antike, sondern auch in der Renaissance das Schaffen bildender Künstler beeinflusst. Ein von Antonio Lombardo um 1508 geschaffener Poseidon (Abb. 9), der zu einem Relief mit dem Thema »Wettstreit um Attika« gehört, sieht dem Herakles jedenfalls verblüffend ähnlich.107 Ich könnte mir vorstellen, dass Lombardo eine der Gemmen vorgelegen hat, die den myronischen Herakles zeigen (Abb. 7). Im Fall einer weiteren Figur des Reliefs – es handelt sich um den neben Poseidon Sitzenden, dessen Deutung nicht gesichert ist – konnte bereits der Nachweis erbracht werden, dass eine antike Gemme als Vorbild fungiert hat.108
57 Abb. 1 Unbekannter Gemmenschneider: Tydeus; Karneol (Höhe 1,4 cm), um 470/60 v. Chr. Berlin, Antikensammlung, Inv. FG 195 8 Statue des Tydeus In einem fragmentarisch erhaltenen Epigramm, das der Dichter Poseidipp aus Pella in hellenistischer Zeit verfasst hat, ist kurz nacheinander von Tydeus und Myron die Rede, was zu der Annahme geführt hat, dass der Bildhauer eine Statue des ätolischen Heros geschaffen habe, der zusammen mit fünf weiteren Feldherren Polyneikes auf dessen Zug gegen Theben begleitet und in der Schlacht vor den Toren Thebens fällt.132 Dieses Bildwerk findet jedoch in späteren Quellen anscheinend keine Erwähnung, und es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass man es in der römischen Kaiserzeit kopiert oder es sich im Original erhalten hat.133 Es lassen sich aber zwei etruskische Karneole nachweisen, die dem Stil zufolge in der Zeit um 470/60 v. Chr., also während der Schaffenszeit Myrons, entstanden sind und eine Figur zeigen, die anhand der Beischrift »TUTE« als Darstellung des Tydeus gedeutet werden kann (Abb. 1). Wiedergegeben ist Tydeus als nackter Athlet, der seine linke Wade mit einer Strigilis säubert.134 Da Tydeus auch als Athlet Berühmtheit erlangt hat,135 erregt das Thema der Darstellung keine Verwunderung. Überraschend ist aber die gesuchte Pose, die in der Beugung des Rumpfes und dem weit herabgeführten linken Arm wie ein Vorgriff auf den etwas später entstandenen Diskobol (Kat. 10) anmutet. Tatsächlich hat Peter Zazoff sogar die Vermutung ausgesprochen, dass den etruskischen Steinschneidern in diesem Fall eine griechische Statue als Vorbild gedient habe, von der sie beispielsweise durch eine Zeichnung Kenntnis besessen haben könnten.136 So verlockend diese Annahme auch sein mag: Die haltungsmotivische Ähnlichkeit, die zwischen dem Diskobol und den Gemmenbildern besteht, ist in diesem Fall nicht damit zu erklären, dass bei dem Athleten und der postulierten Statue des Tydeus derselbe Bildhauer am Werk war. Die Disposition des Haupthaars, das der Gemmenschneider mit bewundernswerter Genauigkeit wiedergegeben hat, findet keine Entsprechung bei den Bildwerken, die für Myron bezeugt sind oder ihm zugeschrieben werden.
59 Abb. 2 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Statue des Myron Marmor, 1. oder 2. Jh. n. Chr.; Louvre Abu Dhabi (Dauerleihgabe des Musée du Louvre) Abb. 1 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Statue des Myron, sog. Münchner König; pentelischer Marmor, 2. Jh. n. Chr.; München, Glyptothek (hier im Berliner Abguss, mit den historischen Ergänzungen) 9 Statuengruppe von Heroen Auf einen weiteren myronischen Heros, der sich jedoch nicht benennen lässt, kann vielleicht der statuarische Typus des sog. Münchner Königs zurückgeführt werden (Abb. 1).137 Dargestellt ist – in deutlicher Überlebensgröße – ein muskulöser nackter Mann mit linkem Stand- und rechtem Spielbein. Ersteres ist fast vertikal positioniert, was zur Folge hat, dass die Hüfte nur minimal zur linken Seite hin auslädt. Wie für viele Statuen seit der Zeit um 460/50 v. Chr. üblich, ist das Spielbein dergestalt entlastet, dass sein Unterschenkel zurückgenommen ist und der Fuß nur mit dem Ballen und einigen Zehen den Boden berührt. Dadurch kann der Betrachter den Eindruck gewinnen, die Figur halte gerade im Schreiten inne. Die ungleiche Verteilung der Körperlast auf die beiden Beine zieht eine Schrägstellung des Beckens nach sich, die im Bereich des Rumpfes durch eine Kontraktion der linken Körperhälfte ausgeglichen wird, und zwar in einem solchen Maß, dass die Schulter dieser Seite etwas tiefer positioniert ist als diejenige der Spielbeinseite. Der bärtige, mit einer Haarbinde geschmückte Kopf ist zur linken Seite gedreht und leicht gesenkt, der linke Arm in der Beuge so angewinkelt, dass der nach vorn geführte Unterarm eine annähernd horizontale Position einnimmt. Hand und Attribut sind verloren, was auch für den rechten Arm gilt, der, mit einer gewissen Anspannung versehen, an der Körperseite herabgeführt ist. Dass auch die rechte Hand etwas gehalten hat, geht daraus hervor, dass von der Außenseite des Oberschenkels ein neuzeitlich weitestgehend abgearbeiteter Steg seinen Ausgang nahm, der aufgrund seiner Position und seines großen Durchmessers nur mit einem Attribut in Verbindung gestanden haben kann. Der Münchner König geht auf eine griechische Bronzestatue zurück, die man anscheinend nur selten abgeformt und kopiert hat. Erst im Jahr 1988 ist eine in Capua gefundene Kopfreplik bekannt geworden. Sie stimmt mit dem Münchner König in der Größe und in allen Einzelheiten der Frisur überein und ist ebenso wie dieser im 2. Jh. n. Chr. angefertigt worden.138 Der statuarische Typus kann an dieser Stelle außerdem auch noch um eine Torsoreplik in Abu Dhabi erweitert werden, die von höchster handwerklicher Qualität ist (Abb. 2).139 Sie dürfte sich von der Münchner Statue unter anderem dadurch unterschieden haben, dass ihr Bart fehlte, auch wenn ohne Autopsie nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass Überbleibsel eines Bartes im Rahmen der neuzeitlichen, heute nicht mehr vorhandenen Ergänzung des Torsos abgearbeitet worden sind.140 Zu den
60 Abb. 5–6 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Statue des Myron; pentelischer Marmor, 2. Jh. n. Chr.; München, Glyptothek (hier im Dresdner Teilabguss: Inv. ASN 1903) Abb. 3–4 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Statue des Myron; Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Berlin, Antikensammlung, Inv. Sk 1502
61 Weise wiedergegeben sind. Ersichtlich ist allerdings auch, dass die Form des Bartes beim Herakles altertümlicher anmutet als beim Münchner König, was dafür spricht, einen nicht zu kleinen Abstand zwischen den Entstehungszeiten beider Bildwerke zu postulieren, für den auch die Unterschiede im Standmotiv sprechen. In der Haargestaltung erweist sich auch der Marsyas (Kat. 1) als ein enger Verwandter des Münchner Königs, jedenfalls dann, wenn man seine Pubes (Abb. 7 und Abb. S. 55) in die Betrachtung einbezieht. Einem mit demjenigen des Münchner Königs vergleichbaren Duktus der Haarwiedergabe begegnet man zudem bei einem weiteren für Myron gesicherten Werk, dem Diskobol (Kat. 10). Dort und beim sog. Amelungschen Athleten (Kat. 11) ist das Haar aber fast durchgehend erheblich kleinteiliger aufgefasst als bei der Statue in München und ihrer Replik in Capua. Im Hinblick auf die Bartgestaltung besitzen die hier ausgeführten Vergleiche auch für den Kopftypus Berlin-Athen (Abb. 3–4) Geltung. Schläfen- und Kalottenhaar dieses Kopftypus entsprechen hingegen nicht dem, was als charakteristisch für myronische Werke angesehen werden darf. Das Kalottenhaar erinnert an dasjenige des sog. Tiberapollon, dem ein Bronzeoriginal aus dem mittleren 5. Jh. v. Chr. zugrunde liegt,150 und das Haupthaar an den Kopfseiten an dasjenige des Apollon Typus Kassel, der gleichfalls auf ein Original aus dieser Zeit zurückgeht.151 Abb. 7 Unbekannter Bildhauer: Kopie einer Statue des Myron, sog. Münchner König, Detail; pentelischer Marmor, 2. Jh. n. Chr. München, Glyptothek (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2731) Repliken ist zudem wohl auch eine kopflose Statue zu zählen, die im Archäologischen Museum in Theben aufbewahrt wird.141 Ihr Bildhauer hat die Kopie um ein Schwertband bereichert, das diagonal über den Oberkörper geführt ist. Nachdem Furtwängler 1893 vorgeschlagen hatte, im Münchner König das Werk eines in der Zeit um 460 v. Chr. tätigen argivischen Bildhauers zu erkennen,142 hat Arndt einige Jahre später auf die Übereinstimmungen hingewiesen, die zwischen der Münchner Statue und dem kleinformatigen Herakles Typus Boston-Oxford (Kat. 5) bestehen.143 Von Lippold ist der Münchner König dann aber 1917 und noch 1950 irrtümlich als eine klassizistische Kontamination angesehen worden, was zur Folge hatte, dass Arndts kunsthistorische Einordnung für längere Zeit in Vergessenheit geriet.144 Lippold vertrat die These, dass eine Büste in Berlin (Abb. 3–4)145 den Kopf des Originals getreu wiedergebe, während der Bildhauer der Münchner Statue versucht habe, den Stil des Originals in der Haargestaltung (Abb. 5–6) und auch in anderen Punkten zu verändern. Da mittlerweile sowohl zum Kopf der Münchner Statue als auch zum Berliner Kopf jeweils eine weitere Replik nachgewiesen werden konnte, ist Lippolds Vermutung jedoch obsolet.146 Die Gemeinsamkeiten, die zwischen dem Münchner König und dem Kopftypus Berlin-Athen bestehen, bleiben freilich bemerkenswert. Beide Werke stimmen nicht nur in der Größe, in der Art der Haarbinde und im Habitus überein, sondern auch darin, dass die Lockendisposition des Bartes etliche Entsprechungen aufweist, was insbesondere bei einer Betrachtung der rechten Profile ins Auge fällt. Man darf daher vermuten, dass die Originale zu einer Gruppe gehört haben, die mehrere Statuen von der Hand desselben Bildhauers umfasste.147 Um sich die Arbeit zu erleichtern, hat der Bildhauer anscheinend bestimmte Partien eines Tonmodells mehrfach verwendet. Anhaltspunkte für eine solche Vorgehensweise finden sich auch im Œuvre von Myrons jüngerem Zeitgenossen Polyklet.148 Die erstmals von Arndt, später auch von Barbara Vierneisel-Schlörb149 befürwortete Bestimmung des Münchner Königs als Kopie einer von Myron geschaffenen Bronzestatue lässt sich insofern gut nachvollziehen, als der statuarische Typus in der Disposition von Bart- und Kalottenhaar dem Herakles Typus Boston-Oxford (Kat. 5) nahesteht. Bei einem Vergleich der Profile erkennt man in den Bärten hier wie dort hakenförmige Strähnengruppen, die in ganz ähnlicher
63 Abb. 2 Unbekannter Bildhauer: Kopie des myronischen Diskuswerfers, sog. Diskobol Lancellotti; parischer Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Rom, Palazzo Massimo alle Terme (hier im Dresdner Teilabguss: Inv. ASN 3093) Abb. 3 Unbekannter Bildhauer: Kopf einer Kopie des myronischen Diskuswerfers; Marmor, 1. Jh. n. Chr. Berlin, Antikensammlung (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2042) Abb. 1 Unbekannter Bildhauer: Kopie des myronischen Diskuswerfers, sog. Diskobol Lancellotti; parischer Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Rom, Palazzo Massimo alle Terme, Inv. 126371 10 Statue eines unbekannten Athleten (Diskobol) Eine besonders berühmte Skulptur Myrons, sein Diskuswerfer, wird in dem bereits genannten Dialog Lukians (2. Jh. n. Chr.) sowie in lateinischen Texten erwähnt und lässt sich auf der Grundlage etlicher antiker Kopien in fast allen Einzelheiten rekonstruieren (Abb. 1).152 Aus der Größe der fünf erhaltenen Kopfrepliken geht hervor, dass die von Myron geschaffene lebensgroße Bronzestatue in aufrechter Haltung eine Höhe von etwa 1,80 m erreicht hätte.153 Dargestellt war ein erwachsener Athlet, der – wohl bei einem der vier panhellenischen Agone – im Fünfkampf (Pentathlon) gesiegt hat; der als Einzeldisziplin nicht ausgetragene Diskuswurf war zusammen mit Speerwurf, Weitsprung (aus dem Stand), Stadion-Lauf (Kurzstrecke) und Ringkampf Teil des Fünfkampfes. Dass das Original als Statue eines siegreichen Athleten – in der Zeit um 450 v. Chr. – in Griechenland aufgestellt worden ist, kann als gesichert angesehen werden. Olympia dürfte allerdings als Aufstellungsort ausscheiden, da Pausanias die Skulptur bei seiner Besichtigung der zahllosen olympischen Siegerstatuen (Buch 6 der Perihegese), in deren Rahmen er auf gleich mehrere myronische Athleten zu sprechen kommt,154 schwerlich übersehen hat. Ob ihm die Statue gar nicht bekannt war? Auch manch andere bedeutende Bronzestatue hochklassischer Zeit, zum Beispiel der von Polyklet in den 40er-Jahren des 5. Jhs. v. Chr. geschaffene Speerträger (griech. Doryphoros), zu Pausanias’ Zeit in sehr vielen Städten des römischen Reiches durch eine Kopie oder durch eine Teilkopie in Form einer Büste vertreten, wird von dem Reisenden mit keinem Wort erwähnt. Welchen Athleten die Statue zeigte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Ausschlaggebend dafür ist der Umstand, dass die im Späthellenismus und in der römischen Kaiserzeit tätigen
64 Abb. 4–5 Unbekannter Bildhauer: Kopf einer Kopie des myronischen Diskuswerfers; Marmor, 1. Jh. n. Chr. Berlin, Antikensammlung (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2042) Kopisten die Bronzeoriginale nicht direkt, sondern unter Zuhilfenahme von Gipsabgüssen in Stein (oder in Bronze) übertragen haben. Die Abgüsse aber beschränkten sich jeweils auf die Statue selbst, enthielten also nicht die essentiellen Angaben zum Darstellungsinhalt, welche die Betrachter der Originale der Inschrift auf bzw. an der Statuenbasis entnehmen konnten. Unter Athletenstatuen suchte man zu Kopierzwecken vorzugsweise diejenigen aus, die von der Hand besonders berühmter Bildhauer stammten. So handelte es sich bei den beiden am häufigsten kopierten Siegerstatuen, dem Diskophoros und dem Kyniskos, um Werke des argivischen Bildhauers Polyklet.155 Wie Käufer von Kopien an die wichtige Information zum Schöpfer des Originals gelangen konnten, entzieht sich unserer Kenntnis: Die Kopisten haben grundsätzlich keine inschriftliche Angabe dazu hinterlassen, von wessen Hand das von ihnen kopierte Original stammte!156 Das Anfertigen von Marmorkopien nach Myrons Diskuswerfer war mit einem vergleichsweise hohen Aufwand verbunden. Da die für die Kopienproduktion zuständigen Bildhauer lebens- und auch überlebensgroße Bildwerke grundsätzlich aus einem Marmorblock zu arbeiten pflegten, mussten sie bei der Herstellung von Kopien des Diskuswerfers insbesondere bei der Ausarbeitung des weit zurückgenommenen rechten Arms, in dessen Hand sich die Wurfscheibe befindet, äußerst behutsam vorgehen. Auch das oben im Kapitel zu Myron beschriebene Standmotiv des Athleten ließ sich wegen seiner Labilität nicht leicht in Marmor realisieren. Um der steinernen Figur ein Stehen überhaupt erst zu ermöglichen, waren die Bildhauer der Kopien gezwungen, dem Spielbein zusätzliche Stabilität zu verleihen. Seine Außenseite wurde mit einer Stütze verbunden, die beispielsweise die Form eines Palmbaumstamms annehmen konnte. Aber selbst dann war es anscheinend noch ein schwieriges
65 Abb. 6 Unbekannter Bildhauer: Kopf einer Kopie des myronischen Diskuswerfers; Marmor, 1. Jh. n. Chr. Basel, Antikenmuseum (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 1847) Unterfangen, die Figur mit ihrer Standfläche so auf einer Basis zu positionieren, dass ihre Haltung genau derjenigen des Bronzeoriginals entsprach. Gut nachvollziehen lässt sich die Problematik, wenn man um die am besten erhaltene Kopie, den Diskobol Lancellotti (Abb. 1), herumgeht.157 Man erkennt dann, dass der Ergänzer dieser Skulptur, Giuseppe Angelini, die Standfläche so in die neuzeitliche Basis eingelassen hat, dass sich ihre Oberseite in der Waagerechten befindet. Die Haltung der Beine weicht in dieser Positionierung jedoch von derjenigen der Repliken aus der Villa Hadriana und aus Castelporziano (Abb. 7) ab: Der Diskobol Lancellotti scheint im Begriff zu sein, nach hinten zu kippen.158 Ist die Schieflage dieser Skulptur also in erster Linie dem Kopisten anzulasten, fällt an anderen Stellen auf, dass auch die Ausarbeitung nur als mittelmäßig eingestuft werden kann. Nicht gerade einfühlsam ist der Übergang vom Palmbaumstamm zum linken Bein gestaltet, von geringer Sorgfalt die Ausführung der Pubes (Abb. S. 13) und die Wiedergabe des linken Fußes (Abb. S. 12). Auch die Gestaltung der kleinteiligen Frisur wird allzu hohen Erwartungen nicht gerecht.159 Zwei markante Kopierpunkte im Stirnhaar geben zwar zu erkennen, dass hier ein Bildhauer am Werk war, der bei der Übertragung der Lockendisposition vom Abguss auf den Marmor nachgemessen hat. Warum aber sind die Kopierpunkte im Anschluss an die Ausarbeitung des Haupthaars nicht entfernt worden? Sollte mit dem Hinweis auf akkurates Kopieren kaschiert werden, dass die Disposition des Haupthaars nur im Bereich von Stirn und linker Schläfe derjenigen des Originals – ungefähr – entspricht, nicht aber im Bereich der rechten Schläfe (Abb. 2) sowie hinter den Ohren und am Hinterkopf? Vergleicht man den Kopf des Diskobols Lancellotti mit den übrigen Kopfrepliken, wird, wie Furtwängler erkannt hat, ersichtlich, dass die Disposition des Haupthaars der myronischen Statue am zuverlässigsten anhand des Berliner Kopfes erschlossen werden kann (Abb. 3–5).160 Nur dort sind die kleinen, zur Stirnmitte weisenden Lockenspitzen zur Ausführung gelangt, nur dort hinterlässt die Strähnenführung vor dem rechten Ohr einen überzeugenden Eindruck und nur dort ist auch die rückwärtige Haarpartie bis in die letzten Verästelungen hinein durchkomponiert. Besonders deutlich wird die Sorgfalt, die der Kopist des Berliner Kopfes der Ausführung des Haupthaars hat angedeihen lassen, bei einer Gegenüberstellung mit der in Dresden gleichfalls in Gestalt eines Abgusses vorhandenen Kopfreplik in Basel (Abb. 6). Während bei dieser die Strähnenkompartimente reliefartig angelegt und von der Mitte des Hinterkopfes aus gleichförmig zu den Seiten hin ausgerichtet sind, entfalten sie beim Kopf in Berlin eine größere Plastizität, wobei die einzelnen Strähnenregister außerdem weniger hart gegeneinandergesetzt sind. Nur beim Berliner Kopf unterliegt überdies das in den Nacken herabreichende Haar einem kompositorischen Prinzip. Erwartungsgemäß haben die Kopisten nicht nur bei der Wiedergabe des Haupthaars, sondern auch bei derjenigen des Schamhaars, dessen Disposition gut anhand der Repliken in London, im Palazzo Massimo und im Vatikan nachvollzogen werden kann, unterschiedliche Sorgfalt walten lassen. Der Vergleich erbringt, dass der Bildhauer der Kopie im Vatikan Verlauf und Plastizität der einzelnen Strähnengruppen am besten erfasst zu haben scheint (Abb. 8). Die
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67 Abb. 9 Unbekannter Bildhauer: Kopie des myronischen Diskuswerfers, Detail; Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Rom, Palazzo Massimo alle Terme (hier im Abguss der Universität La Sapienza) Abb. 7 Unbekannter Bildhauer: Kopie des myronischen Diskuswerfers; Marmor, 2. Jh. n. Chr. Rom, Palazzo Massimo alle Terme, Inv. 56039 Abb. 8 Unbekannter Bildhauer: Kopie des myronischen Diskuswerfers, Detail; Marmor, 2. Jh. n. Chr.; Vatikanische Museen (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 2862) Pubes der Replik aus Castelporziano ist dagegen durch eine gleichförmige Gestaltung der obersten Lockenreihe vereinfacht (Abb. 9), und bei der Replik aus der Sammlung Lancellotti (Abb. S. 13) hat der großkristalline parische Marmor eine nuancierte Ausarbeitung der Lockengruppen nicht wirklich zugelassen. Der von Myron geschaffene Diskuswerfer ist derartig ausgeklügelt komponiert wie keine zweite antike Athletenstatue.161 Myron hat mehrere Zeitebenen zu einer zusammengeführt, was vor allem daran abzulesen ist, dass der Penis zu einer Seite hin bewegt ist, während die Figur insgesamt, wenn auch nur für einen ganz kurzen Moment, an einem Punkt hochkonzentrierter Ruhe angelangt ist. Soweit die literarische und materielle Überlieferung zu erkennen gibt, hat Myron auch bei der Kreation anderer Siegerstatuen versucht, zu eigenwilligen Lösungen zu gelangen. Ein häufig kopierter Athlet, den Amelung rekonstruiert und Myron zugeschrieben hat (Kat. 11), zeichnet sich dadurch aus, dass er eine durchaus nebensächliche Aktion vollführt, indem er sich einen Kopfschutz anlegt. In eine ganz andere Richtung zielte die Komposition der Statue, die den siegreichen Läufer Ladas zeigte. In diesem Fall ging es Myron offenbar darum, ein Höchstmaß an Schnelligkeit zum Ausdruck zu bringen. Der einzigen Quelle zu diesem Werk zufolge, einem in der Anthologia Graeca überlieferten Gedicht, könnte dieses Ziel dadurch erreicht worden sein, dass die Bronzeskulptur nur mit Ballen und Zehen eines Fußes in der Oberseite der Statuenbasis verankert war.162 Es lässt sich denken, dass solch ein Werk – zumindest in Marmor – nicht hat kopiert werden können und daher auch keinen Niederschlag in der materiellen Überlieferung der Kopistenzeit gefunden hat.
79 13 Statue einer jungen Kuh Myrons Bronzestatue einer jungen Kuh verdankt ihre Berühmtheit in erster Linie den vielen Gedichten, in denen sie von griechischen und römischen Dichtern gepriesen worden ist. Mehr als 35 Epigramme sind in Buch 9 der Anthologia Palatina überliefert, einem im 10. Jahrhundert in Konstantinopel beschriebenen und insgesamt über 3 200 Gedichte enthaltenden Pergamentcodex (Abb. 3),192 der auf ältere, nicht mehr erhaltene Gedichtsammlungen zurückgeht und zusammen mit einem zweiten Codex, der Anthologia Planudea, die Anthologia Graeca bildet. Die beiden folgenden kurzen Epigramme stammen von Antipater aus Sidon (Phönizien), einem in hellenistischer Zeit tätigen Dichter (Abb. S. 10, Z. 21–22 und Abb. 3, Z. 2–3):193 »Hätte Myron meine Füße nicht an diesem Stein hier befestigt, dann würde ich junge Kuh zusammen mit anderen Rindern weiden.« »Gleich wird die junge Kuh, glaube ich, muhen. Zögert sie aber, so hat die empfindungslose Bronze daran Schuld, nicht Myron.« Sehr viel später ist ein ebenfalls in griechischer Sprache abgefasstes Epigramm entstanden, dessen Autor Julian von Ägypten sein soll, der von etwa 485 bis um 550 n. Chr. gelebt hat (Abb. 3, Z. 26–29):194 »Getäuscht hat Myron, Mücke, auch dich, da du den Stachel in erzgegossene Flanken eines harten Rindes zu stoßen versuchst. Kein Grund zum Ärger für die Mücke: Wie denn auch? Hat Myron doch selbst die Augen von Hirten betrogen.« In allen drei Gedichten scheint eines der Hauptmerkmale der Skulptur auf: ihre Lebensechtheit. Wie Lilian Balensiefen zeigen konnte, entfalten die hier abgedruckten und die vielen übrigen Epigramme, in denen es um Myrons Junge Kuh geht, ihren Reiz jedoch dadurch, »dass sie nicht bloß die illusionierende und desillusionierende Wirkung vor Augen führen, die das Bildwerk auf seine Betrachter ausübt, sondern dass sie ihre Leser bzw. Hörer zu ›Augenzeugen‹ des permanenten Wechselspiels werden lassen, das sich zwischen den beiden Bildern vollzieht, die sie evozieren, nämlich das des Bildwerks und das des Bildobjekts. Damit verweisen sie auf eine Eigenschaft, die nicht in besonderem Maß auf Myrons Kuh zu beziehen ist, sondern die bildende Kunst überhaupt betrifft.«195 Myrons Bronzestatue, die man sich lebensgroß vorzustellen hat, ist im mittleren 6. Jh. n. Chr. auf dem Forum der Pax in Rom bezeugt und hat wahrscheinlich zu den griechischen Kunstschätzen gehört, die der römische Kaiser Vespasian (reg. 69–79 n. Chr.) auf dieser, von ihm selbst eingeweihten Platzanlage hat aufstellen lassen. Da einiges dafür spricht, dass die Junge Kuh auf römischen Aurei augusteischer Zeit abgebildet ist (Abb. 1),196 wird man davon auszugehen haben, dass der Transfer nach Rom bereits im 1. Jh. v. Chr. erfolgt ist. Hans Christoph von Mosch vermutet, Octavian habe die Kuh bald nach der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) aus Athen abtransportieren lassen, mithin zu einer Zeit, als seine Beziehung zu der griechischen Stadt dadurch getrübt war, dass diese seinem Gegner Marcus Antonius Quartier geboten hatte.197 Die Aurei geben zu erkennen, dass die Junge Kuh behutsam voranschreitet und dabei die rechten Beine vorsetzt. Ihr Kopf ist leicht gesenkt und nach vorn ausgerichtet, das Maul geschlossen; der Schwanz hängt zwischen den Hinterbeinen herab. Anders als Myrons Diskuswerfer (Kat. 10) und seine Athena-Marsyas-Gruppe (Kat. 1) zeichnete sich die Skulptur also weder durch ein ungewöhnliches Haltungsmotiv noch durch die originelle Zusammenstellung mit einer weiteren Figur aus. Einzelheiten der bildhauerischen Gestaltung von Myrons Tierskulptur werden wohl nicht mehr zu ermitteln sein: Kühe gehörten nicht zum Standardrepertoire der Bildhauerwerkstätten, die Italien und den gesamten Mittelmeerraum mit Kopien berühmter Bildwerke versorgten, und man darf erwarten, dass Myrons Junge Kuh allenfalls ausnahmsweise einmal abgeformt worden ist, um, etwa auf exklusiven Wunsch eines Sammlers hochklassischer Plastik, in Marmor oder Bronze kopiert werden zu können. Abb. 1 Unbekannter Stempelschneider: Junge Kuh; römischer Aureus (Durchmesser 18,5 mm), Rückseite, 27 v. Chr.; Brüssel, Bibliothèque royale, Cabinet des Médailles
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