Leseprobe

11 Einleitung Einen Kernbereich der Dresdner Skulpturensammlung bilden Statuen, Statuetten und Büsten, die antike Bildhauer in der Zeit vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis zum späten 4. Jh. n. Chr. geschaffen haben. Innerhalb dieses weiten zeitlichen Rahmens kommt den Schöpfungen aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr. eine herausragende Rolle zu, denn es sind vornehmlich die Werke aus der Blütezeit der griechischen Bildhauerkunst (Hochklassik und Spätklassik), die nicht nur in Texten antiker Autoren Erwähnung gefunden haben, sondern auch in Gestalt von Abgüssen in vielen Kopistenateliers in hellenistischer und in der römischen Kaiserzeit zugegen waren und dort vervielfältigt worden sind. Nachdem im vorausgehenden Band dieser Reihe das Schaffen des argivischen Bildhauers Polyklet ausführlich vorgestellt worden ist, soll es hier um einen ähnlich berühmten und gleichfalls im 5. Jh. v. Chr. tätigen griechischen Bildhauer gehen: Myron. Dank der Bestimmung eines Bildwerks als Kopie des von ihm geschaffenen Diskuswerfers (Kat. 10) konnte man sich vom Können dieses Mannes seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine gewisse Vorstellung verschaffen, mithin lange Zeit bevor es Karl Friederichs – im Jahr 1863 – gelang, erstmals ein Werk Polyklets, den Speerträger, im Bestand an römisch-kaiserzeitlichen Kopien nachzuweisen. Anders als es bei Polyklet der Fall ist, sind sich, soweit man heute weiß, Myrons Skulpturen indes einander nicht so ähnlich gewesen, dass im Anschluss an die Identifizierung seines Diskuswerfers die Möglichkeit bestanden hätte, weitere Kopien nach Werken Myrons, von denen in antiken Schriftquellen die Rede ist, in der materiellen Überlieferung nachzuweisen. Erst im frühen 20. Jahrhundert kam man mit der Identifizierung der Athena-Marsyas-Gruppe (Kat. 1), die Pausanias im 2. Jh. n. Chr. auf der Akropolis von Athen gesehen hat, einen bedeutenden Schritt weiter. Und während die ungefähr zur gleichen Zeit zu Polyklet angestellten Überlegungen schon damals ein durchaus geschlossenes Bild von dessen Œuvre erbracht haben, ist unsere Vorstellung von der »Handschrift« Myrons bis heute eher vage geblieben. Im vorliegenden Band wird unter besonderer Berücksichtigung von Bildwerken der Dresdner Skulpturensammlung versucht, dem bildhauerischen Vermächtnis Myrons Konturen zu verleihen. Dabei soll vor allem geprüft werden, ob unter den nicht wenigen Werken, die man Myron – in Gestalt von Kopien – zugeschrieben hat, tatsächlich solche sind, die zu den für diesen Bildhauer gesicherten Skulpturen in enger Verbindung stehen. Grundlage der Spurensuche ist ein stilkritischer Vergleich der genannten Skulpturen, dessen Fokus auf einer genauen Betrachtung der Haargestaltung liegt. Wie schon im Band »Polyklet« wird auch hier die im deutschen Sprachraum entwickelte Terminologie verwendet, die sich in der Klassischen Archäologie bei der Analyse von römisch-kaiserzeitlichen Kopien etabliert hat. Haben sich mehrere Kopien einer bestimmten Skulptur erhalten, wird für diese der Begriff »statuarischer Typus« oder, wenn nur der Kopf überliefert ist, der Begriff »Kopftypus« verwendet, die beide stellvertretend für das »Original« gebraucht werden können. Da es häufig, etwa bei den Kopien nach Statuen siegreicher Athleten, nicht möglich ist, den Dargestellten zu benennen, und da wir auch bei der Mehrzahl der Statuen von Gottheiten und Heroen die ursprüngliche Werkbezeichnung nicht kennen, ist man in der Regel gezwungen, einen statuarischen Typus mit einer behelfsmäßigen Bezeichnung zu versehen (Apollon Typus Kassel). Dieses Verfahren hat sich bereits in der Antike bewährt, etwa um den Dargestellten anhand der von ihm vollführten Aktion zu charakterisieren (Diskobol).  Unbekannter Schreiber: Anthologia Palatina, Ausschnitt (p. 476); Pergament, 10. Jahrhundert Heidelberg, Universitätsbibliothek, Codex Palatinus graecus 23

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