Leseprobe

15 den sich vier Eintiefungen, in denen die Füße der beiden lebens- oder leicht überlebensgroßen Bronzestatuen mit Bleiverguss verankert waren. Ein vergleichbares Standmotiv, bei dem außer dem Fuß der Standbeinseite auch derjenige des Spielbeins mit der gesamten Sohle am Boden ruht, kann für den Hermes (Kat. 3) und den Amelungschen Athleten (Kat. 11) erschlossen werden; beim Herakles Typus Boston-­ Oxford (Kat. 5) befindet sich der Fuß der Spielbeinseite etwas dichter am anderen. In Myrons Interesse am bewegten Körper und an der Zusammenführung mehrerer Zeitebenen kommt eine Experimentierfreude zum Ausdruck, die auch für viele andere Künstler der Frühen Klassik charakteristisch gewesen zu sein scheint, die aber in der nächsten Generation, während der Hochklassik, wieder in den Hintergrund trat. Damit geht einher, dass Myron anscheinend keine Schüler hatte, die das Kunstschaffen der hochklassischen Epoche geprägt haben. Nur sein Sohn Lykios ist als Schüler bezeugt,14 hat aber keine Werke hinterlassen, die es an Bedeutung mit denen des Vaters aufnehmen könnten, sodass Petrons Aussage, »Myron hat keinen Erben gefunden«, verständlich erscheint.15 Plinius zufolge soll Myron dafür kritisiert worden sein, dass er in der Wiedergabe von Haupt- und Schamhaar nicht über das Formenrepertoire früherer Generationen hinausgelangt sei.16 Die in Kopien erhaltenen Werke, zum Beispiel der Diskobol (Kat. 10), zeigen freilich gerade das Gegenteil. Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wie die antike Kunstgeschichtsschreibung, die Plinius bei der Abfassung seiner Naturalis historia in den 70er-Jahren des 1. Jhs. n. Chr. zu Rate gezogen hat, zu solch einer Fehlbeurteilung gelangt ist. Auch die von Cicero in den 40er-Jahren des 1. Jhs. v. Chr. vertretene Ansicht, Myrons Skulpturen würden »noch nicht nahe genug an die lebendige Wirklichkeit heranreichen«,17 stimmt nicht mit dem überein, was andere Schriftsteller und Dichter von Myron zu berichten wissen. Insbesondere die von ihm geschaffene Statue einer jungen Kuh (Kat. 13) ist die gesamte Antike hindurch gerade wegen ihrer lebensechten Gestaltung immer wieder bestaunt und gerühmt worden. Anlass, sich über die Beurteilung zu wundern, die Myrons Schaffen in der Antike zuteilgeworden ist, bieten auch die Texte anderer Autoren. So erfährt man im Prolog zum fünften der Fabelbücher, die Phaedrus in der frühen römischen Kaiserzeit verfasst hat, dass bestimmte Künstler (artifices) bzw. Fälscher seinerzeit versucht hätten, eigene Werke als diejenigen berühmter Meister auszugeben.18 »Es ist nagender Neid, dass man so viel mehr aufgeputztem Alten nachläuft als den tüchtigen Werken der Gegenwart.« Eigenartigerweise soll es sich bei den Werken, die als »myronisch« in den Handel gebracht wurden, nicht etwa um Skulpturen aus Bronze, sondern um Silbergerät gehandelt haben. Weitere im 1. Jh. n. Chr. verfasste Texte zeigen, dass es die Käufer solcher Objekte damals tatsächlich für möglich hielten, Myron und andere berühmte griechische Bildhauer hätten sich als Toreuten von Gefäßen einen Namen gemacht.19 Forschungsgeschichte Es ist Giambattista Visconti (1722–1784), päpstlicher Oberaufseher aller Altertümer in und um Rom, dem die Erkenntnis verdankt wird, dass der berühmte, unter anderem von Plinius erwähnte Diskobol (Kat. 10) in Kopien erhalten ist. Im Jahr 1781, zehn Tage nach der Entdeckung der ziemlich gut erhaltenen Replik, die sich heute im Palazzo Massimo in Rom befindet (Abb. S. 62), schrieb Visconti, der das Replikenverhältnis zu einem lange bekannten, aber durch die neuzeitlichen Ergänzungen arg entstellten Torso im Museo Capitolino (Abb. 4) erkannt hatte, in einem Brief an Kardinal Pallotta: »Ich prüfte also, ob einer der alten (Schriftsteller) unter den Werken der renommiertesten Bildhauer einen Diskuswerfer erwähnt. Und wirklich fand ich bei Plinius drei berühmte Diskuswerfer, einen des Myron, einen zweiten des Naukydes und einen dritten des Tauriskos.«20 Für die Identifizierung des Diskuswerfers ausgerechnet mit der Statue von der Hand des Myron kommt allerdings einer von Visconti noch nicht in die Betrachtung einbezogenen literarischen Quelle eine maßgebliche Bedeutung zu. In Lukians philosophiekritischem Dialog Die Lügenfreunde oder der Ungläubige, um 170 n. Chr. verfasst, findet sich die folgende Passage:21 »Hast du nicht, sagte Eukrates, beim Hereingehen im Hof eine wunderschöne Statue aufgestellt gesehen, eine Arbeit von Demetrios, dem Menschenbildner? – Du meinst doch, sagte ich, nicht den Diskuswerfer, der sich in der Haltung des Abwurfs gebückt hat, seinen Kopf zu der Hand gewendet, die den Diskus hält, ein Knie leicht gebeugt, wobei er den Eindruck erweckt, dass er sich gleichzeitig mit dem Wurf wiederaufrichten wird? – Nein, sagte er, den nicht; denn das ist ein weiteres Werk des Myron, der Diskobol, von dem du sprichst.«

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