Leseprobe

46 Abb. 7 Unbekannter Gemmenschneider: Herakles (gespiegelt) Karneol (Höhe 1,5 cm), 1. Jh. v. Chr.; München, Staatliche Münzsammlung, Inv. A 1995 Abb. 8 Unbekannter Bildhauer: Torso einer großen männlichen Statue, Detail; Marmor, 1. Jh. n. Chr.; Rom, Centrale Montemartini (hier im Abguss der Universität La Sapienza) nur 36 bis 38 cm verfügt haben.98 Ihr Bildhauer hat das Vorbild in einigen Punkten gravierend modifiziert, allerdings nicht inhaltlich – die Attribute haben sich bei dieser Figur nicht erhalten –, sondern formal: Die Leistenpartie ist deutlich breiter als beim Vorbild, und auch der Bart hat seine charakteristische Form verloren (Abb. 5). Der Haaransatz ist nach unten gewandert, und die Disposition der Locken von Haupt- und Barthaar stimmt nicht mit derjenigen überein, die anhand der maßgleichen Repliken (Abb. 4) für das Original erschlossen werden konnte. Das Madrider Bildwerk bietet somit ein überaus anschauliches Beispiel dafür, dass römisch-kaiserzeitliche Skulpturen, die ohne Zuhilfenahme eines Zirkels (zum Abgreifen bestimmter Distanzen) hergestellt worden sind, in einem durchaus beachtlichen Ausmaß vom jeweiligen Vorbild abweichen konnten.99 Von Myrons Herakles haben sich in der Antike offenbar auch einige Steinschneider inspirieren lassen. Ein aus der Sammlung des bereits erwähnten Archäologen Paul Arndt stammender Karneol in München sowie einige weitere Gemmen zeigen im Miniaturformat einen Herakles, der Myrons Bildwerk überaus ähnlich sieht (Abb. 7).100 Die Gemmenschneider sind zwischen 100 v. Chr. und 200 n. Chr. tätig gewesen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Myrons Herakles überlebensgroß war und dass die maßgleichen Repliken auf ein Zwischenoriginal zurückgehen, das dann seinerseits eine deutlich verkleinerte und vielleicht erst in der römischen Kaiserzeit geschaffene Fassung dargestellt haben müsste. Zwischenoriginale dieser Art hat es sicher gegeben; zu einer gewissen Bekanntheit hat es dasjenige gebracht, dem eine von Polyklet geschaffene und bislang nicht sicher zu benennende großplastische Figur zugrunde liegt.101 Im Fall von Myrons Herakles fehlt bislang freilich eine materielle Grundlage für die Annahme einer großplastischen Fassung. Es lassen sich lediglich einige römisch-kaiserzeitliche Bildwerke nachweisen, die in einer durchaus losen Beziehung zum kleinformatigen Herakles stehen. Anzuführen wären etwa ein Marmorkopf in Kopenhagen, der auf eine lebensgroße Statue aus der Zeit des Strengen Stils zurückgehen dürfte,102 sowie eine imposante, 2,37 m große Heraklesstatue in Cherchel (Algerien).103 Das zuletzt genannte Werk ist wegen seiner Haargestaltung und seines Standmotivs zwar immer wieder als Nachbildung eines Vorbilds aus der Zeit des Strengen Stils gedeutet worden,104 hat aber nicht zuletzt deshalb, weil es von Lippold im 1950 publizierten Handbuch zur griechi­

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