Leseprobe

57  Abb. 1 Unbekannter Gemmenschneider: Tydeus; Karneol (Höhe 1,4 cm), um 470/60 v. Chr. Berlin, Antikensammlung, Inv. FG 195 8 Statue des Tydeus In einem fragmentarisch erhaltenen Epigramm, das der Dichter Poseidipp aus Pella in hellenistischer Zeit verfasst hat, ist kurz nacheinander von Tydeus und Myron die Rede, was zu der Annahme geführt hat, dass der Bildhauer eine Statue des ätolischen Heros geschaffen habe, der zusammen mit fünf weiteren Feldherren Polyneikes auf dessen Zug gegen Theben begleitet und in der Schlacht vor den Toren Thebens fällt.132 Dieses Bildwerk findet jedoch in späteren Quellen anscheinend keine Erwähnung, und es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass man es in der römischen Kaiserzeit kopiert oder es sich im Original erhalten hat.133 Es lassen sich aber zwei etruskische Karneole nachweisen, die dem Stil zufolge in der Zeit um 470/60 v. Chr., also während der Schaffenszeit Myrons, entstanden sind und eine Figur zeigen, die anhand der Beischrift »TUTE« als Darstellung des Tydeus gedeutet werden kann (Abb. 1). Wiedergegeben ist Tydeus als nackter Athlet, der seine linke Wade mit einer Strigilis säubert.134 Da Tydeus auch als Athlet Berühmtheit erlangt hat,135 erregt das Thema der Darstellung keine Verwunderung. Überraschend ist aber die gesuchte Pose, die in der Beugung des Rumpfes und dem weit herabgeführten linken Arm wie ein Vorgriff auf den etwas später entstandenen Diskobol (Kat. 10) anmutet. Tatsächlich hat Peter Zazoff sogar die Vermutung ausgesprochen, dass den etruskischen Steinschneidern in diesem Fall eine griechische Statue als Vorbild gedient habe, von der sie beispielsweise durch eine Zeichnung Kenntnis besessen haben könnten.136 So verlockend diese Annahme auch sein mag: Die haltungsmotivische Ähnlichkeit, die zwischen dem Diskobol und den Gemmenbildern besteht, ist in diesem Fall nicht damit zu erklären, dass bei dem Athleten und der postulierten Statue des Tydeus derselbe Bildhauer am Werk war. Die Disposition des Haupthaars, das der Gemmenschneider mit bewundernswerter Genauigkeit wiedergegeben hat, findet keine Entsprechung bei den Bildwerken, die für Myron bezeugt sind oder ihm zugeschrieben werden.

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