Leseprobe

65 Abb. 6 Unbekannter Bildhauer: Kopf einer Kopie des myronischen Diskuswerfers; Marmor, 1. Jh. n. Chr. Basel, Antikenmuseum (hier im Dresdner Abguss: Inv. ASN 1847) Unterfangen, die Figur mit ihrer Standfläche so auf einer Basis zu positionieren, dass ihre Haltung genau derjenigen des Bronzeoriginals entsprach. Gut nachvollziehen lässt sich die Problematik, wenn man um die am besten erhaltene Kopie, den Diskobol Lancellotti (Abb. 1), herumgeht.157 Man erkennt dann, dass der Ergänzer dieser Skulptur, Giuseppe Angelini, die Standfläche so in die neuzeitliche Basis eingelassen hat, dass sich ihre Oberseite in der Waagerechten befindet. Die Haltung der Beine weicht in dieser Positionierung jedoch von derjenigen der Repliken aus der Villa Hadriana und aus Castelporziano (Abb. 7) ab: Der Diskobol Lancellotti scheint im Begriff zu sein, nach hinten zu kippen.158 Ist die Schieflage dieser Skulptur also in erster Linie dem Kopisten anzulasten, fällt an anderen Stellen auf, dass auch die Ausarbeitung nur als mittelmäßig eingestuft werden kann. Nicht gerade einfühlsam ist der Übergang vom Palmbaumstamm zum linken Bein gestaltet, von geringer Sorgfalt die Ausführung der Pubes (Abb. S. 13) und die Wiedergabe des linken Fußes (Abb. S. 12). Auch die Gestaltung der kleinteiligen Frisur wird allzu hohen Erwartungen nicht gerecht.159 Zwei markante Kopierpunkte im Stirnhaar geben zwar zu erkennen, dass hier ein Bildhauer am Werk war, der bei der Übertragung der Lockendisposition vom Abguss auf den Marmor nachgemessen hat. Warum aber sind die Kopierpunkte im Anschluss an die Ausarbeitung des Haupthaars nicht entfernt worden? Sollte mit dem Hinweis auf akkurates Kopieren kaschiert werden, dass die Disposition des Haupthaars nur im Bereich von Stirn und linker Schläfe derjenigen des Originals – ungefähr – entspricht, nicht aber im Bereich der rechten Schläfe (Abb. 2) sowie hinter den Ohren und am Hinterkopf? Vergleicht man den Kopf des Diskobols Lancellotti mit den übrigen Kopfrepliken, wird, wie Furtwängler erkannt hat, ersichtlich, dass die Disposition des Haupthaars der myronischen Statue am zuverlässigsten anhand des Berliner Kopfes erschlossen werden kann (Abb. 3–5).160 Nur dort sind die kleinen, zur Stirnmitte weisenden Lockenspitzen zur Ausführung gelangt, nur dort hinterlässt die Strähnenführung vor dem rechten Ohr einen überzeugenden Eindruck und nur dort ist auch die rückwärtige Haarpartie bis in die letzten Verästelungen hinein durchkomponiert. Besonders deutlich wird die Sorgfalt, die der Kopist des Berliner Kopfes der Ausführung des Haupthaars hat angedeihen lassen, bei einer Gegenüberstellung mit der in Dresden gleichfalls in Gestalt eines Abgusses vorhandenen Kopfreplik in Basel (Abb. 6). Während bei dieser die Strähnenkompartimente reliefartig angelegt und von der Mitte des Hinterkopfes aus gleichförmig zu den Seiten hin ausgerichtet sind, entfalten sie beim Kopf in Berlin eine größere Plastizität, wobei die einzelnen Strähnenregister außerdem weniger hart gegeneinandergesetzt sind. Nur beim Berliner Kopf unterliegt überdies das in den Nacken herabreichende Haar einem kompositorischen Prinzip. Erwartungsgemäß haben die Kopisten nicht nur bei der Wiedergabe des Haupthaars, sondern auch bei derjenigen des Schamhaars, dessen Disposition gut anhand der Repliken in London, im Palazzo Massimo und im Vatikan nachvollzogen werden kann, unterschiedliche Sorgfalt walten lassen. Der Vergleich erbringt, dass der Bildhauer der Kopie im Vatikan Verlauf und Plastizität der einzelnen Strähnengruppen am besten erfasst zu haben scheint (Abb. 8). Die

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