Leseprobe

79 13 Statue einer jungen Kuh Myrons Bronzestatue einer jungen Kuh verdankt ihre Berühmtheit in erster Linie den vielen Gedichten, in denen sie von griechischen und römischen Dichtern gepriesen worden ist. Mehr als 35 Epigramme sind in Buch 9 der Anthologia Palatina überliefert, einem im 10. Jahrhundert in Konstantinopel beschriebenen und insgesamt über 3 200 Gedichte enthaltenden Pergamentcodex (Abb. 3),192 der auf ältere, nicht mehr erhaltene Gedichtsammlungen zurückgeht und zusammen mit einem zweiten Codex, der Anthologia Planudea, die Anthologia Graeca bildet. Die beiden folgenden kurzen Epigramme stammen von Antipater aus Sidon (Phönizien), einem in hellenistischer Zeit tätigen Dichter (Abb. S. 10, Z. 21–22 und Abb. 3, Z. 2–3):193 »Hätte Myron meine Füße nicht an diesem Stein hier befestigt, dann würde ich junge Kuh zusammen mit anderen Rindern weiden.« »Gleich wird die junge Kuh, glaube ich, muhen. Zögert sie aber, so hat die empfindungslose Bronze daran Schuld, nicht Myron.« Sehr viel später ist ein ebenfalls in griechischer Sprache abgefasstes Epigramm entstanden, dessen Autor Julian von Ägypten sein soll, der von etwa 485 bis um 550 n. Chr. gelebt hat (Abb. 3, Z. 26–29):194 »Getäuscht hat Myron, Mücke, auch dich, da du den Stachel in erzgegossene Flanken eines harten Rindes zu stoßen versuchst. Kein Grund zum Ärger für die Mücke: Wie denn auch? Hat Myron doch selbst die Augen von Hirten betrogen.« In allen drei Gedichten scheint eines der Hauptmerkmale der Skulptur auf: ihre Lebensechtheit. Wie Lilian Balensiefen zeigen konnte, entfalten die hier abgedruckten und die vielen übrigen Epigramme, in denen es um Myrons Junge Kuh geht, ihren Reiz jedoch dadurch, »dass sie nicht bloß die illusionierende und desillusionierende Wirkung vor Augen führen, die das Bildwerk auf seine Betrachter ausübt, sondern dass sie ihre Leser bzw. Hörer zu ›Augenzeugen‹ des permanenten Wechselspiels werden lassen, das sich zwischen den beiden Bildern vollzieht, die sie evozieren, nämlich das des Bildwerks und das des Bildobjekts. Damit verweisen sie auf eine Eigenschaft, die nicht in besonderem Maß auf Myrons Kuh zu beziehen ist, sondern die bildende Kunst überhaupt betrifft.«195 Myrons Bronzestatue, die man sich lebensgroß vorzustellen hat, ist im mittleren 6. Jh. n. Chr. auf dem Forum der Pax in Rom bezeugt und hat wahrscheinlich zu den griechischen Kunstschätzen gehört, die der römische Kaiser Vespasian (reg. 69–79 n. Chr.) auf dieser, von ihm selbst eingeweihten Platzanlage hat aufstellen lassen. Da einiges dafür spricht, dass die Junge Kuh auf römischen Aurei augusteischer Zeit abgebildet ist (Abb. 1),196 wird man davon auszugehen haben, dass der Transfer nach Rom bereits im 1. Jh. v. Chr. erfolgt ist. Hans Christoph von Mosch vermutet, Octavian habe die Kuh bald nach der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) aus Athen abtransportieren lassen, mithin zu einer Zeit, als seine Beziehung zu der griechischen Stadt dadurch getrübt war, dass diese seinem Gegner Marcus Antonius Quartier geboten hatte.197 Die Aurei geben zu erkennen, dass die Junge Kuh behutsam voranschreitet und dabei die rechten Beine vorsetzt. Ihr Kopf ist leicht gesenkt und nach vorn ausgerichtet, das Maul geschlossen; der Schwanz hängt zwischen den Hinterbeinen herab. Anders als Myrons Diskuswerfer (Kat. 10) und seine Athena-Marsyas-Gruppe (Kat. 1) zeichnete sich die Skulptur also weder durch ein ungewöhnliches Haltungsmotiv noch durch die originelle Zusammenstellung mit einer weiteren Figur aus. Einzelheiten der bildhauerischen Gestaltung von Myrons Tierskulptur werden wohl nicht mehr zu ermitteln sein: Kühe gehörten nicht zum Standardrepertoire der Bildhauerwerkstätten, die Italien und den gesamten Mittelmeerraum mit Kopien berühmter Bildwerke versorgten, und man darf erwarten, dass Myrons Junge Kuh allenfalls ausnahmsweise einmal abgeformt worden ist, um, etwa auf exklusiven Wunsch eines Sammlers hochklassischer Plastik, in Marmor oder Bronze kopiert werden zu können.  Abb. 1 Unbekannter Stempelschneider: Junge Kuh; römischer Aureus (Durchmesser 18,5 mm), Rückseite, 27 v. Chr.; Brüssel, Bibliothèque royale, Cabinet des Médailles

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