Leseprobe

80 Bei zwei Statuen von Kühen ist die Vermutung geäußert worden, dass zwischen ihnen und dem Bildwerk von Myrons Hand ein Zusammenhang bestünde. Kurz vor seinem Tod schrieb Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der Begründer der Klassischen Archäologie, zu einer Statue, die seinerzeit im Garten der Villa Aldobrandini in Rom zu sehen war und dort im 18. Jahrhundert auch gezeichnet worden ist: »Da wir von Myrons berühmter Kuh nichts als die vielen Sinnschriften haben, die auf dieselbe gemacht sind, so kann man sich dieselbe einigermaßen vorstellen in einer schönen Kuh von Marmor in Lebensgrösse, die in der Villa Aldobrandini stehet.«198 Winckelmanns Einschätzung lässt sich nur mit Mühe nachvollziehen: Die von ihm angeführte Skulptur, an der nur der Leib antiken Ursprungs ist, wirkt abgemagert und scheint eher ein altes als ein junges Tier wiederzugeben. Zwischen der Skulptur und den Abbildungen auf den Aurei, die Winckelmann noch nicht bekannt waren, besteht keinerlei Entsprechung. Eine im Jahr 1875 auf dem Esquilin gefundene und in den Kapitolinischen Museen aufbewahrte Statue (Abb. 2) weist in der Haltung zwar eine größere Ähnlichkeit zu den Darstellungen auf den Aurei auf als die Kuh der Sammlung AldoAbb. 2 Unbekannter Bildhauer: Kuh; pentelischer Marmor, 1. Jh. v. Chr.; Rom, Konservatorenpalast, Inv. 921  Abb. 3 Unbekannter Schreiber: Anthologia Palatina, Ausschnitt (p. 477); Pergament, 10. Jahrhundert; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Codex Palatinus graecus 23 brandini, wirkt aber mit ihrem massigen Körper und den kurz erscheinenden Beinen alles andere als jung.199 Ihr Hinterteil befindet sich zudem in einer deutlich niedrigeren Position als dasjenige der Darstellungen auf den Aurei, der Bauch reicht weiter herab und der Hals ist länger. Sollte Myrons Kuh tatsächlich so ausgesehen haben wie die erstmals von Richard Delbrueck als Kopie nach dem myronischen Original interpretierte Skulptur im Konservatorenpalast,200 würde man sich sehr über die Hochschätzung wundern müssen, die dem Original in der antiken Dichtung zuteil geworden ist. Von der Forschung ist Delbruecks Vorschlag daher wohl zu Recht verworfen worden.201

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