9 Obwohl von den Bronzeskulpturen Myrons, der zwischen 480 und 440 v. Chr. in Athen tätig war, keine einzige erhalten ist, darf er als einer der wichtigsten Bildhauer der hochklassischen Zeit gelten. Von der herausragenden Qualität seiner Werke geben nämlich antike Marmorkopien eine recht genaue Vorstellung. Deren Zusammenschau, die sog. Kopienkritik, erlaubt es in vielen Fällen, das jeweils zugrunde liegende Original zu rekonstruieren. Die Dresdner Skulpturensammlung besitzt seit 1899 einen meisterhaften Marmorkopf der Göttin Athena, eine der vielen Erwerbungen antiker Skulpturen, die auf die Initiative des damaligen Sammlungsdirektors, des Klassischen Archäologen Georg Treu, zurückgehen. Nur wenige Jahre nach dem Ankauf des Kopfes stellte sich heraus, dass es sich bei ihm um das Überbleibsel einer im 1. Jh. n. Chr. entstandenen Kopie von Myrons Athena-Marsyas-Gruppe handelt. Das nicht mehr erhaltene, wohl in nachantiker Zeit eingeschmolzene Bronzeoriginal muss, da es Pausanias bei seiner Beschreibung der Akropolis von Athen erwähnt, im Altertum berühmt gewesen sein. Nicht minder bekannt war der in zahlreichen Kopien überlieferte, von Plinius und Lukian erwähnte Diskuswerfer. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der nackte Athlet beim Innehalten in der Ausholbewegung, unmittelbar vor dem Abwurf der Scheibe also, dargestellt ist. Die spannungsvoll gebückte Körperhaltung der Figur ist überaus suggestiv und hat zu deren umfangreicher Rezeption in Antike und Nachantike beigetragen. Der Diskuswerfer und andere Werke Myrons sind in der Dresdner Sammlung in Gestalt von Gipsabgüssen nach Kopien aus der römischen Kaiserzeit gegenwärtig. Dem Autor des Bandes, Sascha Kansteiner, ist es gelungen, das Œuvre Myrons durch kritischen Vergleich und ebenso präzise wie einfühlsame Beschreibung anschaulich vorzustellen. Zugleich gibt er der Erforschung der klassischen griechischen Skulptur, anknüpfend an seine 2023 erschienene Monographie über Polyklet, neue Impulse. Ihm gilt mein Dank, ebenso dem Sandstein-Verlag für die umsichtige Betreuung und Gestaltung der Publikation sowie Jörg Deterling für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und für wichtige inhaltliche Anregungen. Myrons Skulpturen folgen beschreibbaren Idealen. Dennoch wird in der antiken Literatur stets ihr Realismus hervorgehoben. Von Myrons bronzener Kuh etwa heißt es, sie sei so täuschend echt wiedergegeben, dass man meine, sie müsse gleich fortlaufen oder muhen. Ein in der Anthologia Graeca (Buch 9, Nr. 736) überliefertes Gedicht nimmt darauf Bezug: »Ach, Myron! Du warst beim Formen nicht schnell genug. Die Bronze kam Dir vielmehr zuvor: Ehe du ihr Leben einflößen konntest, wurde sie fest.« Vorwort Holger Jacob-Friesen Leon Pohle: Bildnis Georg Treu Öl auf Leinwand, 1901 Dresden, Albertinum, Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2917
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