10 MITTSOMMER! Stimmungslandschaften des Nordens 1880–1920 ULRIKE WOLFF-THOMSEN Die nordischen Länder feiern den Mittsommer mit großen ausgelassenen Festen. In Norwegen und Dänemark wird am Vorabend des Johannistags, am 23. Juni, an den Stränden das Sankt-Hans-Feuer entzündet. In Schweden begeht man das Fest meist auf dem Land mit Tanz und Gesang, und auch in Finnland flammen Feuer auf Lichtungen und an den Küsten auf. Die Feierlichkeiten um Mittsommer ist ein wichtiger Teil der kulturellen Identität der nordischen Länder. Mehr als 70 eindrucksvolle Gemälde und Ölstudien, geschaffen von dänischen, norwegischen, schwedischen und finnischen Künstlerinnen und Künstlern, widmen sich thematisch dieser äußerst positiv konnotierten Jahreszeit. Das klare Licht an den langen Tagen und die sogenannten weißen Nächte fanden Eingang in den Motivschatz der Landschaftsmalerinnen und -maler – insbesondere im Zeitraum zwischen 1880 und 1920, als die moderne skandinavische und finnische Kunst eine Hochphase erlebte. Das Licht verleiht den Landschaften eine besondere Stimmung und spricht die Betrachterinnen und Betrachter emotional an. In Nordeuropa setzte nach 1860 ein großer Transformationsprozess ein, ausgelöst durch die Industrialisierung, wirtschaftliche Prosperität und höhere Mobilität infolge verbesserter Verkehrswege. Dies legte auch den Grundstein für einen intensiven gesellschaftlichen und künstlerischen Austausch – national wie international: Reisen und Studienaufenthalte befeuerten die Entwicklungsmöglichkeiten der skandinavischen und finnischen Malerinnen und Maler, ob die Ziele nun in Deutschland, Frankreich oder Italien lagen. Besonders Städte wie Paris, das damals als Welthauptstadt der Kunst galt, zogen Kunstschaffende an. Die französische Hauptstadt galt als Katalysator für neue künstlerische Positionen, war ein Zentrum des internationalen Austauschs, war Galerie-, Messe- und Handelsort, Austragungsstätte der Weltausstellungen 1867, 1878, 1889 und 1900 sowie eine Metropole, die in vielfacher Hinsicht für Innovation und Aufbruch stand. Zur Selbstfindung der Künstlerinnen und Künstler trug bei, dass sie in Folge der begrenzten Ausbildungsmöglichkeiten in ihren Heimatländern nach Frankreich reisten. Dort studierten sie an privaten Malschulen oder an den freien Akademien wie der Académie Julian oder der Académie Colarossi. Diese funktionierten nicht wie die staatliche École des Beaux-Arts oder die Kunsthochschulen in anderen Ländern. Es waren private Unternehmen, die ohne Aufnahmeprüfung besucht werden konnten, die kein striktes Curriculum forderten und somit den Studierenden andere Freiheiten boten. Nicht wenige Professoren der École unterrichteten auch dort. Peder Severin Krøyer, Laurits Tuxen, Helene Schjerfbeck, Edvard Munch und Prinz Eugen von Schweden studierten beispielsweise bei Historien- und Porträtmaler Léon Bonnat. Akseli Gallen-Kallela suchte die Académie Julian und die Académie Colarossi auf. Letztere wurde auch von Helene Schjerfbeck, Emilie Mundt, Elin Danielson-Gambogi, Nils Kreuger und Helmer Osslund besucht. Marie Triepcke, die spätere Ehefrau von Peder Severin Krøyer, wurde gemeinsam mit der Skagen- Malerin Anna Ancher von Pierre Puvis de Chavannes, der als Wegbereiter des Symbolismus gilt, unterrichtet. Reisen und Studienaufenthalte waren wichtig, um eine neue Perspektive auf das eigene Herkunftsland und die dortigen künstlerischen Entwicklungen zu gewinnen. So besaßen neben Paris auch München, Düsseldorf und Berlin, wie auch andere internationale Kunstzentren und Ausstellungsorte eine hohe Attraktivität. Nicht zu vergessen sind überdies die französischen Künstlerorte Grez-sur-Loing, Corncarneau und Pont-Aven, die etwa Elin Danielson-Gambogi, Gottfrid Kallstenius und Bruno Liljefors im Sommer für Freilichtstudien aufsuchten. Doch ihre Motive fand die Künstlerschaft in der Regel in der Heimat.
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