Leseprobe

14 A Journey: The Near Future Kaum eine Ansicht hat die Vorstellungskraft und den Entdeckergeist des Menschen so intensiv und beständig herausgefordert wie der Blick in den Sternenhimmel. Raumfahrtorganisationen wie die NASA und die ESA investieren ebenso wie private Akteure erhebliche Ressourcen in die Erforschung des Mars.1 Im Zentrum dieser Bestrebungen steht nicht nur die Suche nach (früherem oder noch existierendem) mikrobiellem Leben und Wasser. Ebenso zentral ist die detaillierte Analyse der geologischen Strukturen und der atmosphärischen Eigenschaften des Roten Planeten. Per Funk instruierte Landfahrzeuge, sogenannte Rover, durchqueren seit 1997 in Projekten immer wieder sein Terrain, nehmen Proben und senden fortlaufend Daten zur Erde. Erstmals Gesteinsproben zum Blauen Planeten zurückzubefördern, gilt als der nächste Meilenstein der Raumfahrt, und auch fachfremd begreift man, dass der Traum einer astronautischen Marsmission in immer greifbarere Nähe zu rücken scheint. Doch bislang ist es noch nicht so weit. Bislang hat kein menschliches Auge die Gegebenheiten vor Ort erblickt. Hier setzen die Fotografien von Nicolai Howalt an. Der Titel der Serie A Journey: The Near Future verweist auf die wohl nahende Möglichkeit, die lange unvorstellbare Reise zum Mars anzutreten. Doch wer vermutet, dass sich hinter diesen Worten Science-Fiction verbirgt, irrt. Den Kern von Howalts Werkserie aus dem Jahr 2022 bildet ein präziser Forschungsstand der NASA, bestehend aus digitalen Bildinformationen, welche die Mars-Rover Opportunity, Spirit, Curiosity und Perseverance in den Vorjahren an die Erde übermittelten. Wenn zu Beginn dieses Essays von einem menschlichen Wunsch die Rede war, die Grenzen des Bekannten zu verschieben, dann befinden wir Betrachtende seiner Fotografien uns nun imaginär direkt an ebendieser Linie. Die Aufnahmen des Mars gleichen surrealen Fenstern an genau dieser Position und wurden ermöglicht durch menschengemachte Roboter, die uns als immens verlängerter Arm dienen. „Es erscheint mir immer noch fast absurd, dass Roboter eine so wichtige Rolle dabei spielen sollen, unsere Wahrnehmung einer Landschaft zu formen, in der noch nie ein Mensch gewesen ist, und auch die eines Planeten, den wir zu kolonialisieren versuchen“, so Howalt.2 In der Werkserie überträgt er die ursprünglich digital erfassten, hochauflösenden wissenschaftlich-technischen Aufnahmen der NASA auf analoges, lichtempfindliches Fotopapier und macht das digitale Bild so physisch greifbar. Durch diesen Prozess verbindet er zwei gegensätzliche Bildwelten: die flüchtige, immaterielle Natur digitaler Daten mit der chemisch-materiellen Präsenz der analogen Fotografie. In einer Zeit, in der das Digitale, das Technische und das Künstliche alle Lebensbereiche durchdringen, liegt im Analogen und Handgemachten als Gegenbewegung ein besonderer Reiz. Nur ein Beispiel: Wenn ich offenbare, dass der vorherige eingerückte Textabsatz von einer sogenannten künstlichen Intelligenz geschrieben wurde – wie beeinflusst das unsere Haltung dazu? Der Abschnitt mag zutreffend sein, doch scheint er nicht sogleich weniger glaubhaft, weniger wertvoll und weniger mit uns verbunden? Zumindest noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Andersherum gewinnen Nicolai Howalts Mars-Aufnahmen – als physische Fotografien, in der Dunkelkammer entwickelt, schwebend zwischen zwei Verglasungen montiert – eine unmittelbare und überzeugende Qualität. Und dies, obwohl es kein menschlicher Finger war, der vor Ort den Auslöser betätigt hat. Das analoge Verfahren, das sichtbare Handanlegen beim Ausschneiden, die Montage im Rahmen – all dies verstärkt den Faktor der

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