32 Die Aussage »Wittenberg war das geistige Zentrum, Torgau das politische Zentrum der lutherischen Reformation«1 dürfte den aktuellen Konsens in der Forschung korrekt wiedergeben.2 Diese Sichtweise muss hinsichtlich des »politischen Zentrums« aber weiter differenziert und mit Quellen aus der Regierungs- und Verwaltungspraxis unterlegt werden.3 »Hauptresidenz« oder »Nebenresidenz«? Dass bis zur Leipziger Teilung von 1485 die Bezeichnung »Nebenresidenz«, die sich im einschlägigen Handbuch der deutschen Residenzen findet, auf Torgau zutrifft, erscheint angesichts der Bedeutung Dresdens für das gesamt-wettinische Sachsen plausibel.4 Ob Torgau in der Regierungszeit Friedrichs des Weisen aber noch immer als »Nebenresidenz« oder doch als »Hauptresidenz« oder gar »Hauptstadt« des ernestinischen Landesteils zu charakterisieren ist,5 ist die Frage.6 Die ermittelten Anwesenheiten des kurfürstlichen Hoflagers in Torgau in der Zeit Friedrichs des Weisen7 lassen sich augenblicklich nur schwer einordnen, auch wenn die für die ersten 30 gemeinsamen Regierungsjahre Friedrichs und Johanns errechneten durchschnittlichen Verweildauern von jährlich 23 bis 27,5 Wochen auf eine Bevorzugung Torgaus gegenüber anderen Residenzen hinzuweisen scheinen. Nach 1517 diente Torgau bis zum Tod Friedrichs des Weisen aber nur noch selten als Aufenthalt des Hoflagers. Kurprinz Johann Friedrich verbrachte seine ersten acht Lebensjahre fast ausschließlich in seiner Geburtsstadt (1503–1511),8 was als Indiz dafür genommen werden könnte, dass Torgau bis 1513 nicht als Nebenresidenz, sondern vielmehr als »Mitregentenresidenz« Herzog Johanns und seiner Familie diente. Dafür würden auch die Torgauer Hochzeiten Johanns von 1500 und 1513 sowie die Beisetzung seiner ersten Gattin Sophie von Mecklenburg in der Torgauer Pfarrkirche im Jahr 1503 sprechen. Durch die Mutschierung des ernestinischen Territoriums 1513 und die Übersiedelung Johanns nach Weimar9 verlor Torgau um 1513/14 jedoch seinen Status als Mitregentenresidenz. Nicht nur der Herzog verließ Torgau, sondern mit ihm gingen sein Sohn Johann Friedrich und wahrscheinlich auch ihre Räte und Bediensteten, deren Zahl sich allein in der Weimarer Anfangszeit Johanns auf 156 Personen belief.10 Die seit der Leipziger Teilung im Torgauer Schloss untergebrachte Kanzlei blieb jedoch auch nach 1513 an ihrem Ort. Einen Einblick in die Verwaltungspraxis erlaubt außer den zahlreichen durch die Torgauer Kanzlei ausgefertigten Dokumenten selbst insbesondere die bis zu den Reformen Johann Friedrichs 1536 bis 154611 maßgebliche Hofratsordnung Friedrichs und Johanns vom 2. März 1499.12 Sie orientierte sich an der zwei Jahre zuvor von König Maximilian erlassenen Ordnung und legte fest, dass vier Räte ständig am wesentlichen Hof anwesend sein und sich um die Geschäfte kümmern sollten. Diese Hofräte entschieden nach Mehrheit, mussten in wichtigen Fragen aber die Zustimmung des Kurfürsten einholen. Die Kanzlei war hingegen eine reine Registraturbehörde ohne eigene Entscheidungsbefugnis. Schon aus diesen Gründen war die persönliche Anwesenheit des Kurfürsten in Torgau immer wieder erforderlich. Diese Beobachtungen werden durch neu edierte Quellen gestützt: Im Mutschierungsjahr 1513 liegen mehrere in Torgau durch die Brüder Friedrich und Johann gemeinsam oder von Johann alleine ausgestellte Dokumente vor.13 Am 7. Februar 1514 urkundeten die Brüder noch einmal gemeinsam in Torgau,14 dann immer seltener.15 Seit Mitte 1517 war Johann bis zum Tod seines Bruders in Torgau gar nicht mehr als Aussteller präsent.16 Auch wenn die Edition der kirchenpolitischen Briefe und Akten nur einen Teil des Ausstoßes der Kanzlei berücksichtigt, korreliert dieser Abbruch gemeinsamer Regierungshandlungen von Torgau aus mit dem Aufbau eines eigenen Hofes Johanns in Weimar. Für Friedrich den Weisen hingegen lassen sich zwischen 1513 und 1517 zahlreiche, offenbar auch längere Aufenthalte in Torgau nachweisen.17 Die ernestinische Familienmemoria verankerte er allerdings nicht hier, sondern an der Wittenberger Allerheiligenstiftskirche.18 Die Aufenthalte des Kurfürsten wurden (ausweislich der in Torgau ausgestellten Stücke und insoweit diese als Indizien für die Anwesenheiten des Kurfürsten gelten dürfen) seit 1518 aber seltener und hörten phasenweise ganz auf. Nachdem im Januar und Februar 1518 noch mehrere Dokumente in Torgau ausgestellt worden waren,19 klafft eine Lücke bis Oktober 1518.20 1519 sind Aufenthalte im Januar,21 Februar,22 Mai,23 August und September nachzuweisen,24 dann aber kein weiterer Aufenthalt mehr bis zum Februar 1520.25 Erst im November 1522, also fast drei Jahre später, urkundete der Kurfürst wieder in Torgau.26 Ähnlich sieht es für die Jahre 1523, 1524 und 1525 aus. Aufenthalte in Torgau lassen sich durch Briefe und Akten bisher nur für Juni,27 Juli28 und September 152329, für April, August und September 152430 sowie für März 1525 wahrscheinlich machen. Das ist der Grund, warum in dieser Zeit die Torgauer Hofräte stärkeres Gewicht erhielten. Zwischen 1523 und 1525 begegnen sie öfter als in früheren Jahren als Absender von Texten.31 Schaltzentrale wurde Torgau insbesondere in reichsreligionspolitischen Fragen.
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