64 Wissenschaftler haben oft doktrinäre Gründe für die Gestaltung der Kapelle auf Schloss Hartenfels, ihre spätere Nachahmung an anderen Orten und ihre Ähnlichkeit mit anderen protestantischen Kirchen diskutiert. Doch religiöse Belange sind in der lutherischen Theologie und Praxis nicht von politischen zu trennen. Der vorliegende Aufsatz legt den Schwerpunkt auf sozialpolitische Erwägungen statt auf religiöse Faktoren und zeigt damit, dass diese dennoch miteinander verwoben sind.2 Er ordnet die Torgauer Schlosskapelle in eine längere Reihe von Hofkapellen ein, die die Bedeutung des Fürsten betonen. Historiker haben solche Merkmale zweifellos bereits in evangelischen Schlosskapellen, die auf Torgau zurückgehen, erkannt, insbesondere in der zunehmenden Betonung fürstlicher Ambitionen, die sich in ihrer Ikonografie offenbaren.3 Nicht eingegangen wurde dabei auf die fortbestehende Bedeutung einiger der auffälligsten formalen Merkmale der Kapelle in Schloss Hartenfels, die nicht nur später nachgeahmt, sondern bereits selbst von Vorgängerbauten übernommen wurden, aus denen Torgau vermutlich schöpfte und die ebenfalls den Herrscher glorifizierten. Ein kurzer Überblick über einige der hervorstechenden Merkmale der Kapelle auf Schloss Hartenfels leitet diese Interpretation ein. Die Kapelle erstreckt sich über mehrere Geschosse. Sie verfügt über auf Pfeilern ruhende Emporen mit Rundbögen, die an den Längsseiten und an der Hinterseite des Gotteshauses verlaufen sowie an dessen Vorderseite, wo sich eine Orgelempore befindet. Diese Ausrichtung wird durch den Altar bestimmt, der einen Schwerpunkt auf der Hauptlängsachse der Kirche bildet. Ein weiterer Schwerpunkt auf der Achse ist gegenüber dem Altar gesetzt. Das Schlingrippengewölbe unter der Decke der zweiten Empore der Ostwand, also über der ersten Empore, sowie eine reich dekorierte Konsole und eine verzierte Brüstung auf der dritten Ebene betonen dessen Bedeutung. Die Wirkung wurde durch eine in den 1930er-Jahren an diesem Ende angebrachte Brüstung aus dem 17. Jahrhundert verstärkt. Ein weiteres wichtiges Detail ist die Verwendung von Rippengewölben, die die Hauptdecke der Kirche gliedern. Die Raumgestaltung der Kirche ist zwar von der lutherischen Liturgie geprägt – Säulen, Pfeiler und Pilaster fehlen im zentralen Raum, sodass der Blick auf den Altar und die Kanzel nicht versperrt wird –, doch hat Martin Luther selbst nicht festgelegt, wie die formale Gestaltung evangelischer Kapellen aussehen sollte. Gleichzeitig weisen Passagen der Predigt, die er am 5. Oktober 1544 anlässlich der Einweihung der Kapelle auf Schloss Hartenfels hielt, direkt auf deren soziale und politische Stellung hin. An einer Stelle sagt Luther, dass Kapellen für »ordentliche gemeine, ehrliche Versammlungen« gebaut werden sollen. Er sagt, in Torgau solle eine Kapelle »gebawet und geordnet sein für die, so alhie im Schloss und zu Hofe sind, oder die sonst herein gehen wollen«. Er fügt hinzu: »Wie dann auch im weltlichen Regiment geschihet, wo etwas, das die Gemeine betrifft, zuhandeln ist. Viel mehr sol es hie geschehen, wo man Gottes Wort hören sol.«4 Luther schrieb damit zwar keine bestimmte Bauweise für die Torgauer Kapelle vor, doch diese oder ähnliche Worte lieferten die Grundlage für eine umfassende Deutung ihrer Architektur. Unter Verwendung von Luthers Worten »Oben und Unten«, deren Wahl sich eindeutig auf das Thema seiner 1544 in Torgau gehaltenen Predigt bezieht, deutete Reinhold Wex an, dass die dreigliedrige Organisation der Höhe, die Gestaltung und der Grundriss der Kapelle von Schloss Hartenfels Ideen von Einteilung, Schichtung und Hierarchie veranschaulichen. Laut Wex verkörpern die Emporen und die Abgrenzung bestimmter Teile und Bereiche der Kirche soziale Ordnung und Autorität. Er argumentierte, dass diese Aufteilung jedoch nicht aus Vorstellungen von Ordnung und Unterordnung resultiere; in Luthers Denken mag der Fürst auf seinem Thron sitzen, doch vor Gott sind alle gleich.5 Wissenschaftler haben zwar auch andere lutherische liturgische und theologische Erklärungen zur Deutung der Kapelle auf Schloss Hartenfels herangezogen,6 doch erklären ihre Argumente nicht die ungewöhnliche Platzierung des Altars in der Torgauer Kapelle. Denn der Altar befindet sich am westlichen Ende des Gotteshauses, dem überdies ein Chorraum, eine Apsis und damit ein vollständiges Ostende fehlt. Die Kapelle ist wider Erwarten und entgegen der üblichen christlichen Praxis nach Westen ausgerichtet. Die liturgischen Erfordernisse der Lutheraner erklären weder die Ausrichtung der Kapelle noch die erhöhte Platzierung des Herrschers in angemessener Weise. Architektonische Details und urkundliche Quellen weisen darauf hin, dass diese Ausrichtung mit einem der Plätze zusammenhängt, an denen Kurfürst Johann Friedrich, der Patron der Kapelle, von 1544 bis 1547 saß. Er hatte nicht nur ein eigenes Gestühl im Erdgeschoss gegenüber der Kanzel, sondern saß auch im ersten Geschoss auf der Empore am östlichen Ende der Kirche.7 Die Platzierung des Sitzes auf der Empore ist besonders bemerkenswert, da er Die Verbindung von Kirche und Staat zusammen mit der Rolle Luthers liefert einen weiteren Grund für die Beantragung der Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste.
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1