Leseprobe

140 Einbau einer gebrochenen Kassettendecke, 1886 Drehung der Raumkonzeption um 180 Grad, Neuausstattung) veränderten das Erscheinungsbild des Kirchenraumes allerdings so stark, dass er bis auf den originalen Altar kaum mehr eine Vorstellung vom ursprünglichen Erscheinungsbild der Zeit um 1535 ermöglicht und deshalb als frühes Initialbeispiel protestantischer Kirchenarchitektur nur bedingt eine Zeugenschaft beanspruchen kann (Abb. 1). Stark verändert zeigt sich heute auch die von 1534 bis 1537 errichtete Pfarrkirche der nordböhmischen Bergstadt St. Joachimsthal/Jáchymov.3 Der als große dreischiffige Halle ohne ausgewiesenen Chor errichtete Rechteckbau mit Turm in der Mitte der Altarschmalseite war zweigeschossig angelegt. Er wies eine umlaufende Empore auf. Allerdings wurde der Raum nicht, wie geplant, eingewölbt, sondern flach gedeckt und nachträglich durch hölzerne Säulen unterteilt. Bedauerlicherweise ist die im Inneren von einem großen CranachRetabel dominierte Kirche, die bereits 1624 katholisiert worden war, 1873 vollständig ausgebrannt. Danach wurde sie nach Plänen von Josef Mocker neogotisch wiederaufgebaut, wobei die originalen Umfassungsmauern erhalten blieben (Abb. 2). Das Innere hat jedoch seinen einstigen Charakter vollkommen verändert und kann deshalb keinen faktischen Beleg mehr für seinen einstigen Rang als ältester neuerrichteter Stadtkirchenraum des Luthertums liefern. Der dritte, 1538 begonnene Kirchenbau hingegen präsentiert sich nach sorgsamen Restaurierungen heute wieder zu weiten Teilen wie nach seiner Vollendung 1543: die Schlosskapelle des Pfalzgrafen Ottheinrich in dessen Residenz in Neuburg an der Donau (Abb. 3).4 Ottheinrich hatte in seinem Fürstentum am 22. Juni 1542 die Reformation eingeführt und knapp zehn Monate später, am 25. April 1543, als Symbol dafür den prachtvoll ausgestatteten Kapellenraum mit einer auch im Druck erschienenen Predigt des Nürnberger Reformators Andreas Osiander der Nutzung übergeben. Wie in Torgau verweist in Neuburg bis heute eine repräsentative bronzene Dedikationstafel von 1543 – hier mit einer Darstellung des Abschieds Jesu von seiner Mutter nach Albrecht Dürer – auf dieses Ereignis.5 Die bauzeitliche reiche Ausmalung, die heute als erstes umfassendes reformatorisches Bildprogramm in der Monumentalkunst gilt, akzentuiert den Rang dieser Schlosskapelle. Explizite Datierungen an der Emporenbrüstung 1542 und im Scheitel des mittleren östlichen Bogenfeldes 1543 betonen die Zeitstellung von Bau und Ausstattung. Allerdings wurde die Kapelle bereits 1614 katholisiert und ihre evangelische Ausmalung übermalt. Sowohl in der Kirchen- als auch in der Kunst- und Kulturgeschichte spielen Daten als Orientierungspunkte für Entwicklungen und Veränderungen eine wichtige Rolle, weswegen ihre Überprüfung oft von entscheidender Bedeutung für Erkenntnisse absoluter und relativer Abfolgen ist. Die Chronologie der vor der Torgauer Schlosskapelle errichteten ersten lutherischen Kirchenneubauten belegt jedoch, dass diese nicht in eine lineare Geschichtserzählung eingefügt werden können, sondern Ergebnisse einer theologischen Innovation sind, die baulich an verschiedenen Orten auch in verschiedenen Formen unterschiedliche Ausprägungen erhalten hat. Somit stellt die Chronologie der Bauten keine absolute Größe dar, sondern muss für ihre Interpretation mit anderen, eine Genese oder Entwicklung prägenden Faktoren in Zusammenhang gesehen werden. Welche Relevanz haben Bau und Ausstattung der Schlosskapelle in Neuburg|Donau für die Genese der evangelischen Kirchenkunst? Als Ottheinrich von der Pfalz mit der unter Verwendung älterer Bauteile ab 1537 erfolgten Neuerrichtung eines repräsentativen Westflügels seiner Residenz in Neuburg an der Donau im Erdgeschoss eine 3 Neuburg an der Donau, Schlosskapelle, Inneres vom Eingang zum Altar Neuburg an der Donau, Castle Chapel, interior from the entrance to the altar

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