Leseprobe

256 tung des Schlossensembles, was den Kontext zwischen Kapelle und anderen Schlossbauten angeht, ist deutlich bewiesen und dürfte nicht unterbelichtet werden. Herr Prof. Bürger: Gestern hat mich an der Diskussion besonders das weiter beschäftigt, was Marius Winzeler mit der Präsentation auch zur Kapelle in Neuburg noch einmal vorgestellt hat: Es gibt eine Kapelle, die früher gebaut wurde. Die Frage, die wir an uns richten müssen, ist: Warum treffen wir uns jetzt nicht, um uns dieser Kapelle zuzuwenden, sondern sind trotzdem überzeugt, dass es Torgau ist? Also genau das ist sozusagen der Kern dieses Bauwerks, auch als sozialer Raum: Hier überschneiden sich das Handeln in religiöser, theologischer und frömmigkeitspraktischer Hinsicht, aber auch in hoheitlicher, politischer und auch machtpolitischer Dimension, die über den Ort weit hinausgeht. Das ist ein gravierender Unterschied im Vergleich zu Neuburg. Und das bedeutet dann auch, dass dieser Raum nicht nur eine bauliche Hülle für einen historischen Vorgang ist, sondern die Manifestation und Dokumentation einer Bautradition. Diese sehen wir in der Architektur und in diesen Bildprogrammen ganz unmittelbar, und zwar sprechend, aussagekräftig, auch vor dem Hintergrund, dass das eine Zwischensituation, ein Palimpsest, ist. Herr Prof. Harasimowicz: Ja, Sie haben vollkommen recht. Man kann sagen, dass diese Kapelle quasi aus vorhandenen Elementen aufgebaut wurde. Das ist nichts Neues – architektonisch gar nichts Neues –, aber neu zusammengefasst und um eine sehr wichtige Komponente, um diese sozial-kirchliche, ergänzt. Das hört man ganz gut bei der Einweihungspredigt: Menschen, die zusammenkommen und gemeinsam beten. Sitzend, das ist auch sehr wichtig, nicht stehend. Auf Grundlage der letzten Vorträge schlage ich vor, sogar den Alabaster-Altar aus Dresden zu beachten (S. 218, Abb. 3). Er ist wichtig. Es gab nur zwei Altäre solcher Art, die nach der Reformation entstanden sind: einen in Berlin und einen in Dresden. Der Berliner wurde 1626 nach Słońsk (Sonnenburg) in der Neumarkt zur evangelisch-lutherischen Johanniterkirche gebracht und ist bis heute in der dortigen Kirche (jetzt römisch-katholisch) erhalten. Der andere wurde schon vor der Konversion August des Starken als ein Denkmal der Reformation, der sächsischen Reformation, eben nach Torgau geschickt, weil hier ein neues Architekturkonzept entstand: eine »kanonische« Kapelle des Luthertums. Im 16. Jahrhundert wurde die Torgauer Schlosskapelle allmählich zum Inbegriff eines lutherischen Kirchenraumes, obwohl sie schon nicht mehr »zeitgemäß« war. Die divergierenden Achsen waren mit den architektonischen Grundlagen der Barockzeit nicht zu vereinbaren. Trotzdem wurde das Prinzip konsequent wiederholt bis zum späten 18. Jahrhundert. Deshalb muss man hier den bei manchen Historikern umstrittenen Begriff der »Konfessionalisierung« verwenden. Ja, die Schlosskapelle Torgau ist ein Zeichen der lutherischen Konfession. Wenn sich also jemand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dafür entscheidet, gerade diesen Typus von Kirchenraum zu verwenden, bekennt er sich zum Luthertum. Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurden Kirchenräume mit dem axial angebrachten Kanzelaltar immer geläufiger, denn die konfessionellen Streitigkeiten waren nicht mehr so wichtig. Die Reformierten und die Lutheraner könnten das gleiche »axiale« Prinzip verwenden. Aber die unterdrückten lutherischen Gemeinden in der Habsburger Monarchie, insbesondere in Österreich und Österreichisch-Schlesien, nutzten erneut die Formel der divergierenden Achsen. Das ist ein Argument dafür, dass die Torgauer Schlosskapelle tatsächlich eine weitreichende Kontinuität hatte als ein Muster einer lutherischen, man kann sogar sagen »echt lutherischen« Kirche. Herr Dr. Weschenfelder: Das wäre dann ein Argument für die Authentizität: Diese Kapelle hat seit ihrer Gründung kontinuierlich Zeugnis ablegt für sich selbst und für ihren Gründungszweck. Und ich glaube, das ist auch etwas, was Herrn Rhein besonders interessiert, im Hinblick auf die Dedikationstafel und die Erinnerungskultur, die hier begründet wurde. Denn es kommt ja darauf an, dass Luther selbst diese Kapelle als erste lutherische Kapelle benennt und dass sie eben nicht durch Historisierung oder Musealisierung dazu gemacht wurde. Herr Dr. Rhein: Sie verzeihen, wenn ich gleichsam als Advocatus Diaboli auftrete. Sie ist nicht die erste Kapelle - es gibt frühere, siehe Neuburg an der Donau. Wenn ich heute in die Kapelle reingehe, ist sie für mich der Prototyp des protestantischen Kirchbaus. Sie ist aber dazu erst geworden. Denn zu Beginn war sie keineswegs schlicht, denn die Wände waren bemalt, es gab Gemälde und einen Altar mit Retabel. Wir empfinden, definieren und begreifen die Schlosskapelle heute als den Prototyp des lutherischen Kirchenraumes gerade auch im Unterschied zur bunten Kapelle in Neuburg. Herr Prof. DaCosta Kaufmann: Ich gehe ein bisschen weiter mit Ihren Beobachtungen, und es bleibt mir unklar, ob man auch andere Teile des Schlosses mit einbringen kann. Mich beschäftigt die Frage der Wandmalerei und das Kaiserwappen in der Tafelstube, beides von 1544 (Abb. S. 73). Ich frage mich, wie man eigentlich über die Mobilien sprechen sollte; konkret den Altar und die ehemaligen Cranach-Bilder, die man hier vermutet. Der Vortrag von Herrn Tepper hat gezeigt: Es gibt noch sehr viel zu tun im Bereich der Denkmalpflege.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1