Leseprobe

12 Zuschreibung zu einfach. Kriege werden nicht allein durch Zynismus oder Eroberungslust herbeigeführt: Es gibt auch Konflikte, in denen Menschen ihr Land verteidigen, in denen sie unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Gerechtigkeit eintreten. Bei der Landung in der Normandie ging es nicht um Mordlust, sondern um das Ende einer verbrecherischen Tyrannei. Kein normal empfindender Mensch will töten. Aber Soldaten geraten in Situationen, in denen sie – sei es aus Pflichtgefühl, aus Zwang oder auch aus Überzeugung – den Abzug drücken. Auf der anderen Seite der Front steht jemand, der wahrscheinlich ebenfalls eine Familie hat. Dennoch macht es einen Unterschied, ob ein Soldat Angriffsbefehle eines Diktators ausführt oder ob er seine eigene Heimat vor Bomben und Panzern verteidigt. Putins Krieg gegen die Ukraine führt uns dies beispielhaft vor Augen: Hier überschreiten Soldaten eine Grenze im Auftrag eines Aggressors, während die andere Seite ihre Heimat verteidigt. Doch wo sind sie geblieben, die Soldaten? Viele liegen namenlos in Massengräbern, andere werden bis heute vermisst. Und überall lauert neues Unheil: Die rasante Entwicklung künstlicher Intelligenz und Drohnentechnik verspricht eine Zukunft, in der das Töten noch anonymer, noch effizienter geschieht. Ein Mausklick vor einem Bildschirm – und Menschen sterben, ohne dass jemand ihre Schreie hört. Gleichzeitig gibt es jene, die zum Gewehr greifen müssen, weil ihr Land bedroht ist. Sie kämpfen, um den Kindern eine friedlichere Zukunft zu ermöglichen. Wenn wir 2025 den 80. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkriegs begehen, werden wir an diejenigen denken, die Widerstand leisteten und die Barbarei beendeten – Soldaten und Zivilisten, deren Mut die Grundlage für das moderne Europa legte. Ich erinnere mich an den 22. Januar 1963, als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag unterzeichneten. Damals begriff ich noch nicht, welche Bedeutung diese Geste der deutsch-französischen Freundschaft hatte. Erst später erkannte ich, wie kostbar diese Versöhnung war. Als der französische Präsident François Mitterrand 1984 die Hand von Bundeskanzler Helmut Kohl in Verdun ergriff, um Hand in Hand der Gefallenen zu gedenken, verschwand die alte Feindschaft zwischen unseren Ländern endgültig aus den Köpfen. Eine Geste, die mich tief bewegt hat. Nichts davon stand im Protokoll, es war keine Show für die Journalisten. Da waren zwei Staatsmänner, die sich ihrer Verantwortung bewusst waren.

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