Leseprobe

11 HARALD SCHMITT »SAG, WO DIE SOLDATEN SIND – WO SIND SIE GEBLIEBEN?« Verehrte Marlene Dietrich, lieber Pete Seeger, versuchen will ich, darauf eine Antwort zu geben. Zu viele wurden erschossen, verbrannt, erstochen, zerstückelt, an die Wand gestellt, sind im Gas umgekommen, im Irrenhaus gelandet oder wurden als Düngemittel zu Knochenmehl verarbeitet. Sie kehrten traumatisiert zurück, unfähig, das Erlebte je in Worte zu fassen. Wir alle wissen, dass das Ausmaß des Ungeheuerlichen kaum zu begreifen ist, solange wir nicht selbst davon betroffen sind. Vier Jahre lang bin ich für dieses Buch durch Europa gereist, habe historische Orte besucht, an denen das Grauen ebenso spürbar war wie die Mahnung, die aus diesen Wunden der Geschichte spricht. Europa ist in diesen Jahrzehnten, die seit 1945 vergangen sind, zu einem Friedenskontinent gereift – zumindest in unserer Mitte. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass diese Errungenschaft niemals selbstverständlich ist. Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es am 4. Juni 2005 auf dem Soldatenfriedhof in Luxemburg treffend formuliert: »Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatengräber besuchen.« Das Grabfeld der Gefallenen ist ein stummes Zeugnis dessen, was geschieht, wenn Diplomatie und Vernunft versagen. Haben Sie Fanfan, der Husar gesehen? Eine Filmszene zeigt Adlige, die ungerührt darüber spekulieren, wann sie den nächsten Krieg untereinander führen wollen und wie viele Opfer sie dafür in Kauf zu nehmen bereit sind. »Bei Zehntausend hören wir auf.« Diese Karikatur herrschaftlicher Willkür entspricht nur bedingt der Wirklichkeit, ist aber eine bittere Erinnerung daran, dass es meist nicht die Mächtigen sind, die im Schützengraben verbluten. Und doch ist diese

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