Leseprobe

Eindruck von Weite und Unbegrenztheit der Landschaft. Erst durch die Reise zu Fuß, das Hineinbegeben in die und Durchwandern der Natur entfaltet sich diese dem Künstler ganz. Im zweiten Blatt der Radierfolge Der Alte vor dem Knüppelsteg, hier als Kupferplatte zu sehen, ist ein alter Mann mit Wanderstock und breitkrempigem Hut im Begriff einen Steg zu überqueren (Kat.-Nr. 17). Den Großteil der Komposition dominiert die fein und ziseliert ausgearbeitete Vegetation, die von wildwucherndem und bodendeckendem Blatt- und Buschwerk bis hin zu hochgewachsenen Bäumen mit ausgearbeitetem Laubwerk reicht. Rechts im Hintergrund ist eine Ruinenarchitektur schwach in der Platte herausgearbeitet, davor steht eine junge Frau, links daneben ein Rind. Wieder eröffnet sich dem Betrachter der Dualismus zwischen Jung und Alt, Natureinsamkeit und Zivilisation. Erhards Radierungen zeugen von einem neuen Naturverständnis und einer tiefen, fast poetischen Verbundenheit mit der Natur. Die Naturschönheit der Region Viele Landschaftsmaler ließen Anfang des 19. Jahrhundert das heimische Atelier hinter sich, um im unmittelbaren Kontakt mit der Natur zu arbeiten.9 Zwar reisten die Künstler auch zuvor zu Fuß und zeichneten in der Natur, doch geschah dies mit dem Ziel, sich Wissen anzueignen sowie die dort entstandenen Skizzen als Versatzstücke zu nutzen und entsprechend des akademischen Regelkanons in ideale Kompositionen einzubauen. Die Aufwertung der auf der Reise entstandenen Landschaftsbilder hing einerseits mit der Transportfähigkeit der Farben zusammen, die es den Künstlern plötzlich ermöglichte, vor Ort nicht nur in Skizzenbüchern, sondern auch auf Papier oder Leinwandstücken mit Ölfarben zu malen.10 Andererseits führte das neue Selbstbewusstsein der Künstler, das mit dem Lösen aus den Zwängen der Akademietradition einherging, auch zur selbstbestimmten Reise, die dem eigenen Vergnügen und Fortbilden diente. Dies manifestierte sich insbesondere in der Wahl der Wege abseits einer Grand Tour. Während weite Reisen wie die nach Italien teuer und nicht ungefährlich waren, machte die geographische Nähe und das transportable Malequipment mobil und flexibel. Dabei entdeckten die Maler gerade fernab der Laufwege und in ihrer unmittelbaren Umgebung, also der heimischen Landschaft, einen unerschöpflichen Motivreichtum. Führte die erwähnte Reise die Nürnberger Maler Klein und Erhard zusammen mit den Brüdern Reinhold sowie Welker von Salzburg nach Berchtesgaden mit dem Watzmann als krönenden und imposanten Motiv, so fanden andere Künstler zu ähnlichen Routen und bewegten sich in der Nähe des Alpenrandes, wo sie Berge, Seen, Flüsse, Bäume oder Holzhütten als Sujets fanden. Das Voralpenland, das Salzkammergut und die Steiermark boten alles, um das Ephemere der Natur einzufangen: Materialität und Oberflächen von Steinen, Holz oder Erde, fließende oder ruhende, spiegelnde Gewässer, unterschiedliche Lichtstimmungen und wechselnde Wetterverhältnisse. In unseren Beispielen lassen sich die nah beieinanderliegenden Reisewege hervorragend nachvollziehen: Der norwegische Künstler Thomas Fearnley malte in Öl auf Holz eine Mühle bei Golling – südöstlich von Berchtesgaden gelegen – und setzte die einfach aus Holzlatten zusammengezimmerte Wassermühle zentral in Szene (Kat.-Nr. 27). Fearnley fing das Wasser ein, das über eine hölzerne Wasserrinne zum Mühlrad geleitetet wird und sich dann kaskadenhaft über Felsblöcke bis zum unteren Bildrand ergießt. Unterschiedliche Materialitäten, wie das vom Wasser bereits angegriffene, verwitternde Holz kontrastieren mit den glatten oder moosbewachsenen Gesteinsoberflächen. Akzente setzt das schäumende Wasser. Auch der Maler August Heinrich wanderte durch das Berchtesgadener Land bis nach Salzburg. Sein Aquarell Waldlandschaft im Gebirge (Kat.-Nr. 20) wird vermutlich in die geographische Nähe des südlich von Berchtesgaden gelegenen Königsees zu verorten sein, von dem sich eine Skizze auf der Rückseite des Blattes befindet. Als Bildausschnitt wählte Heinrich eine Ansicht mit Blick über eine Wiese im Vordergrund und Wälder bis zu Gebirgszügen im Hintergrund. Dabei wird der freie Blick durch eine dominierende Dreiergruppe von Bäumen, die die Bildvertikale durchschneidet, verstellt. Als weiteres eindrucksvolles Motiv diente der zwischen Salzburg und Berchtesgaden am Alpenrand gelegene Untersberg, der von dem Vorreiter der Münchner Schule Johann Georg von Dillis hier gleich zweimal im zeitlichem Abstand von mindestens 20 Jahren in Öl auf Papier festgehalten wird (Kat.-Nrn. 21, 22). Die früher entstandene Ansicht, betitelt Blick auf den Untersberg ist, wie viele der Landschaften von Dillis, nur auf den ersten Blick menschenleer. In die horizontale Bildmitte harmonisch ein-

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