Leseprobe

20 In den Reihen der »Brücke« dienten die Karten der raschen Kommunikation untereinander – unabhängig, ob sich die Freunde an den gleichen oder an unterschiedlichen Orten aufhielten. An den Namen gelegentlich Mitunterzeichnender lässt sich ablesen, wo und wann sich bestimmte Zirkel herausgebildet haben, was wiederum Rückschlüsse auf die Dynamik innerhalb der Gruppe erlaubt. Insbesondere zwischen Heckel und Kirchner, die um 1910 eine große stilistische Nähe entwickelt hatten, bestand ein reger Austausch.8 Heckels Postkarten dieser Jahre waren ganz wesentlich von wechselnden Aufenthaltsorten geprägt: So kennen wir Grüße aus Italien (1909), Dangast (1909–1910), Dresden und Moritzburg (1909–1911), Prerow (1911), Fehmarn und Hiddensee (1912), Berlin (ab 1911) und Osterholz (ab 1913). Eine Sonderrolle nehmen die wenigen bekannten illustrierten Briefe ein, in denen Heckel Skizzen von Gemälden einfügte, an denen er gerade arbeitete oder die er noch realisieren wollte. Insbesondere lag ihm daran, Rosa Schapire auf dem Laufenden zu halten, da sie gelegentlich Vorträge über sein Werk hielt. Von seiner Italienreise sandte er ihr beispielsweise zahlreiche Bildskizzen. Als Geschäftsführer der »Brücke« führte Heckel die Korrespondenz, kümmerte sich um die Organisation von Ausstellungen und das Verschicken der Jahresmappen. Dadurch erweiterte sich der Kreis der Adressaten,9 was auch Heckels persönliche Kontakte prägte: Karten gingen an Kollegen wie Franz Marc oder Lyonel Feininger, passive Mitglieder wie Käthe Bleichröder oder Künstlerfreundinnen wie Maschka Mueller. Sein Postkartenschaffen entfaltete sich parallel zum übrigen Werk und behandelt, wie in den Gemälden, Aquarellen und Druckgrafiken, zentrale Themen seiner Kunst: Landschaften, Badende, Akte im Atelier, Varieté, Zirkus und Bildnisse. Mit Darstellungen von bogenschießenden Akten oder durchs Wasser watenden Modellen in Moritzburg, Fränzi im Atelier, Seiltänzerinnen, Pferdedressuren oder Damenringkampf reflektieren seine Postkartenmotive exemplarisch den vitalen Expressionismus vor 1914. Mit dem Kennenlernen der Tänzerin Sidi Riha, die ab 1911 als Lebensgefährtin und nahezu einziges Modell in Heckels Bildern vorkommt, erweiterte sich sein Motivspektrum ins Private, siehe etwa die Karte Sidi beim Schminken. Als Technik favorisierte Heckel die Zeichnung, ausgeführt in Farbkreide, Tusche oder Bleistift; gelegentlich trat Aquarellmalerei hinzu. Strenge Konturlinien, sicher und energisch, frei und offen gesetzt, stehen neben flächigen Schraffuren mit malerischer Wirkung; vermittelt werden sowohl flüchtige Momentaufnahmen als auch atmosphärische Stimmungen. Die Postkarten bilden damit einen bedeutsamen und integralen Bestandteil in Heckels zeichnerischem Werk. Sidi beim Schminken, 1910 Kopf, 1910 Kniende Frau I, 1913 8 Vgl. Annemarie Dube-Heynig: E. L. Kirchner, Postkarten und Briefe an Erich Heckel, Köln 1984. Die stilistischen Gemeinsamkeiten werfen in seltenen Fällen Fragen nach der Urheberschaft der Kartenzeichnungen auf. Die Postkarten von Heckel an Kirchner haben sich nicht erhalten. 9 Vgl. dazu das Verzeichnis der Adressaten im Anhang, S. 356–361. 10 Vgl. Andreas Gabelmann: Selbstbehauptung und Wandel, Erich Heckels Bildwelten aus dem Ersten Weltkrieg, in: Ausst.-Kat. Erich Heckel, Kriegszeit 1914– 1918, Kunstmuseum Moritzburg, Halle 2014, S. 53–65; und Ebner/ Gabelmann 2021, Bd. 2, S. 42–103. 11 Vgl. Hans Geissler: Die Jahresblätter, in: Ebner/Gabelmann 2021, Bd. III, S. 45–63.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1