Leseprobe

Museum Schwerin Staatliches DE

Inhalt Vorwort 7 Kunst für die Gegenwart. Zur Sammlungs- und Museumsgeschichte 8 Moderne & Gegenwart Prolog. Hofkunst trifft Gegenwart 32 Vom Hof an die Börse 36 Aufbruch in die Moderne 42 Klassische Moderne 48 Tobias Rehberger 54 Ostdeutsche Perspektiven 58 Altarraum – KI im Museum 64 Marcel Duchamp als Impulsgeber für das 20. und 21. Jahrhundert 68 Farbe, Licht und Raum 74 1 2 3 4 5 6 7 8 9

10 11 12 13 14 15 Alte Meister Interieurs und Stillleben 86 Kabinettstücke 90 Historien und Personen 96 Landschaften 100 Sammlung Christoph Müller 104 Menagerien 110 Schatzkammer 116 Die Malerei ist weiblich – Künstlerinnen 124 Altdeutsche Kunst 128 Kupferstichkabinett 134 Ein Ort für alle – entdecken, erleben, genießen 140 Bildnachweis 143 Impressum 144 16 17 18 19

4 1 Moderne & Gegenwart Eingang Atelier The View Eingang KunstBau

5 2 Alte Meister Haupteingang Freitreppe

7 Vorwort Nach vier Jahren Umbau ist es soweit: Im Oktober 2025 haben wir unsere Türen wieder geöffnet! Die Kunst kehrt in die sanierten Räume zurück – und mit ihr viele neue Möglichkeiten, Kunst zu entdecken. Auf einer erweiterten Ausstellungsfläche laden wir Sie zu einem neuen Rundgang ein, die Sammlung thematisch zu erleben, Epochen zu verbinden und neue Perspektiven zu gewinnen. Ein besonderes Highlight ist die immersive Rauminstallation von Tobias Rehberger. Sie wurde eigens für das Museum entwickelt und spielt mit Elementen aus Architektur, Design, Malerei und Skulptur. Ihre Sinne werden herausgefordert, und das genaue Hinsehen wird belohnt. Das Staatliche Museum Schwerin wird mehr denn je ein lebendiger Ort sein – für die Menschen in Schwerin, in Mecklenburg-Vorpommern und darüber hinaus. Wir möchten für Kunst begeistern, zum Entdecken und Mitdenken einladen, zum Verweilen, Staunen und Austauschen inspirieren. Das Haus ist nun kinderfreundlicher, digitaler, interaktiver und fast vollständig barrierefrei. Auch Café und Shop wurden erneuert. Dass wir heute diesen neuen Anfang mit Ihnen feiern können, verdanken wir in besonderem Maße der Dorit & Alexander Otto Stiftung. Ihre großzügige Unterstützung hat die denkmalgerechte Sanierung des historischen Museumsgebäudes von 1882 erst möglich gemacht. Mit diesem Buch halten Sie den kompakten Begleiter durch unsere Sammlung und Ausstellungsräume in der Hand. Schön, dass wir Sie begrüßen dürfen! Dr. Pirko Kristin Zinnow Direktorin und das Team des Staatlichen Museums Schwerin

8 Was einst mit der Passion eines kunstsinnigen Herzogs begann, ist heute ein kulturelles Juwel. Unter den deutschen Museen genießt das Staatliche Museum Schwerin seit jeher einen hervorragenden Ruf für seine außergewöhnliche Sammlung niederländischer Malerei aus dem 17. Jahrhundert. Einzigartig im Bereich der Alten Meister sind außerdem die Tierbilder des französischen Malers Jean-Baptiste Oudry aus dem 18. Jahrhundert, von denen sich die weltweit größte Anzahl in Schwerin befindet. Bis heute ist einigen Beständen des Museums der universelle Charakter einer fürstlichen Sammlung anzumerken. Neben der Malerei umfasst die Sammlung herausragende Werke des Kunsthandwerks, der Zeichnung und Druckgrafik sowie der Numismatik. Seit der Einweihung des Museumsbaus Ende des 19. Jahrhunderts wurde kontinuierlich weitergesammelt – mit einem Schwerpunkt auf der jeweiligen Kunst der Gegenwart. So lassen sich verschiedene Wege der Moderne bis heute gut ablesen, beispielsweise die durch Impressionismus und Expressionismus geprägte Malerei aus den Künstlerkolonien Schwaan und Ahrenshoop sowie die vielseitige Kunstszene in der DDR. Kunst für die Gegenwart. Zur Sammlungs- und Museumsgeschichte

9 Seit der Wiedervereinigung hat das Staatliche Museum Schwerin im Bereich der konzeptuellen Kunst ein Alleinstellungsmerkmal entwickelt: Die exquisite Sammlung von Werken Marcel Duchamps ist eine der umfangreichsten in Europa, große Bestände an Objekten der Fluxus-Bewegung und der Mail Art haben diese Ausrichtung gezielt ergänzt. Die herzogliche Sammlung Die umfangreichen Sammlungen älterer Kunst in Schwerin gehen im Wesentlichen auf Herzog Christian Ludwig II. zurück. Er versammelte viele seiner Erwerbungen in der sogenannten Bildergalerie, einem eigens errichteten Anbau am alten Schweriner Schloss. Dort präsentierte er Gemälde und verschiedenartige Kunstwerke und Objekte zusammen: Klein- und Porzellanplastik, Elfenbeinschnitzereien, Goldschmiedekunst, Chinoiserien und vieles andere, schließlich Ethnografika, Naturalien und die Kupferstichsammlung. Neben dem direkten Kontakt zu Künstler*innen besaß Christian Ludwig II., unter anderem in Amsterdam, Den Haag, Paris, Berlin und Dresden, Kontakte zu Kunsthändlern und Agenten, die ihn mit Informationen über VerOudry-Saal im Obergeschoss

käufe und Auktionen von Kunstwerken versorgten. Auch Familienmitglieder und Hofbedienstete, darunter seine Hofkünstler, waren durch zahlreiche Reisen in die Akquisition von Kunst und Kunsthandwerk einbezogen. So sammelte sein jüngster Sohn Ludwig Münzen und Medaillen, die dann einen wichtigen Baustein für das Münzkabinett lieferten. Christian Ludwigs ältester Sohn und Nachfolger Friedrich, der als Kronprinz an Kunstankäufen beteiligt war, beschränkte sich nach dem Tod des Vaters auf Gemälde der Hofporträtisten und auf Uhren. Er interessierte sich besonders für Architektur und nahm selbst gestaltenden Einfluss auf die von ihm in Auftrag gegebenen Bauten. Dazu gehörten die Ludwigsluster Hofkirche und das Schloss Ludwigslust, das das kleine Jagdschloss seines Vaters ersetzte. Die Galerie in Schwerin fiel in einen Dornröschenschlaf, nicht zuletzt, weil die Fürstenfamilie die meiste Zeit in Ludwigslust wohnte. Friedrich Franz I. kaufte aus der Sammlung des verstorbenen Kurfürsten Maximilian von Köln eine umfangreiche Sammlung älterer Handzeichnungen und Druckgrafik, die zum Grundstock des heutigen Kupferstichkabinetts gehört. Erst 1837 entschied der neue Großherzog Paul Friedrich, Schwerin wieder den Status einer echten Residenz zu geben, wo nicht nur der Regierungsapparat arbeitete, 10 Georg Weissmann (1706–1760) Porträt Christian Ludwig II. von Mecklenburg-Schwerin, 1731 Öl auf Leinwand SSGK-MV, Inv.-Nr. 3757

sondern auch der Fürst mit seinem Hofstaat residierte und damit der Stadt Glanz und Anziehungskraft verlieh. Auch ein modernes fürstliches Palais sollte dazu beitragen, doch starb Paul Friedrich kurz darauf; das Fundament des Baus war gerade erst fertig geworden. Sein Sohn, Friedrich Franz II., hatte andere Vorstellungen. Auf ihn geht der tiefgreifende Umbau des Schweriner Schlosses zurück. Die Kunstsammlungen mussten für dieses Bauvorhaben in zwei eigens angemietete Häuser am Pfaffenteich umziehen, wo sie immerhin zum ersten Mal öffentlich zugänglich waren. In diese Zeit fallen umfangreiche Ankäufe von italienischen, altdeutschen und altniederländischen Werken, die offensichtlich darauf abzielten, aus den fürstlichen Sammlungen ein Museum nach dem bürgerlichen Bildungsideal zu formen. Hinter diesen Bemühungen stand Eduard Prosch, der Kunstintendant des Großherzogs, der mit zahlreichen Kunsthändlern in Verbindung stand. Ebenfalls in seine Verantwortung fielen die umfangreichen Übernahmen älterer Kunstwerke aus Kirchen der Region. Die Sammlung altdeutscher Malerei und Plastik geht zum großen Teil auf diese Abgaben zurück, so zum Beispiel der Tempziner Altar von 1411 oder der Altar der Lübecker Jakobikirche von 1435, besser bekannt als Neustädter Altar. 11 Theodor Schloepke (1812–1878) Ansicht der Auffahrt unter der Bildergalerie, 1845 Bleistift aquarelliert SSGK-MV, Inv.-Nr. 2691 Hz

32 1 Prolog. Hofkunst trifft Gegenwart Die Kunst, die am mecklenburgischen Hof geschaffen oder durch ihn erworben wurde, bildet den Ursprung der Schweriner Sammlung. Sie ist ein Fenster in eine Zeit des künstlerischen und intellektuellen Austauschs, der die europäische Kunstlandschaft maßgeblich prägte. Künstler wie Georg David Matthieu (1737–1778), Theodor Schloepke (1812–1878), Johann Heinrich Suhrlandt (1742–1827) und Rudolph Suhrlandt (1781–1862) sowie Johann Alexander Thiele (1685–1752) waren Akteure in einem weitverzweigten Netzwerk. Ihre Arbeiten stehen im Zeichen stetig wechselnder ästhetischer und politischer Anforderungen der höfischen Auftraggeber*innen. Dabei trugen die Künstler mit der Anwendung innovativer Techniken, modischer Stile und der Übernahme neuer Motivwelten aus den deutschen und europäischen Kunstzentren zum Renommee der herzoglichen Familie bei. Im Prolog treffen Kunst der Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar aufeinander. Er eröffnet neue Blicke auf historische und zeitgenössische Werke. In manchmal überraschenden Gegenüberstellungen wird sichtbar, wie sich die Impulse der Barock- und Rokoko-Kunst bis in die Gegenwart fortsetzen, neu interpretiert oder auch kritisch gewendet werden. Zu den Ausgangspunkten für diese Auseinandersetzung gehören neben ästhetischen und technologischen auch gesellschaftliche und politische Aspekte. Dazu zählt etwa die höfische Repräsentation und damit die Kunst als Werkzeug der Selbstinszenierung und Machtdarstellung. _ SaS

Mal unmittelbar und augenfällig, mal subtil und hintergründig offenbaren sich Berührungspunkte zwischen einzelnen Werken und Werkgruppen. Neben Objekten aus der eigenen Sammlung, wie beispielsweise den Chantournés (französisch chantourner, aussägen) von Georg David Matthieu und den Cutouts von Alex Katz (* 1927) werden hochkarätige Leihgaben präsentiert, um formale und inhaltliche Kontinuitäten und Brüche aufzuzeigen. Die einzelnen Gegenüberstellungen beleuchten, wie die historischen Kunstwerke Vorstellungen und Ideale ihrer Zeit spiegeln und welche Impulse sich für die heutige Kunstproduktion ergeben. Welche Relevanz besitzt die Kunst der Vergangenheit für die Kunst der Gegenwart? Welche Verbindungen gehen Tradition und Innovation in den Werken ein? Welche neuen Lesarten entstehen durch die Begegnung? _ SaS Georg David Matthieu (1737–1778) Ulrike Sophie, Herzogin von MecklenburgSchwerin, 1769 Öl auf Holz 145 × 94 × 14 cm Inv.-Nr. G 211 34

35 Alex Katz (* 1927) Black Dress 3 (Oona), 2018 Cutout aus pulverbeschichtetem Aluminium 61 × 19 × 8 cm, Inv.-Nr. Pl. 661

36 Vom Hof an die Börse In Mecklenburg begannen an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert die Grafen von Schwerin und kurz darauf die Herzöge von Mecklenburg mit der Ausgabe von Münzen. Es waren sogenannte Brakteaten, einseitig geprägte Hohlpfennige. Später folgen auch größere Nominale wie beispielsweise der Witten. Am Beginn der Frühen Neuzeit wurde mit dem Taler die wohl bekannteste Großsilbermünze geschaffen, deren Name sich sogar noch heute in der Benennung »Dollar« wiederfindet. Auch Goldmünzen ließ man schlagen, die allerdings einen solchen Wert aufwiesen, dass sie im alltäglichen Zahlungsverkehr kaum jemand in den Händen hielt. Den Münzen sehr ähnlich sind Medaillen, die aber nicht als Zahlungsmittel dienen. Sie spiegeln auf unnachahmliche Art Geschichte wider. Sei es nun eine Hochzeit im mecklenburgischen Herzogshaus oder der Neubau des Schweriner Schlosses, immer wieder griff man auf dieses Medium der Erinnerung zurück. Seit über 2 000 Jahren kennt der Mensch den Umgang mit Münzen. Die griechische Drachme, der römische Denar – später als Pfennig bekannt – oder der frühneuzeitliche Taler beherrschten den Zahlungsverkehr. Bis in das 19. Jahrhundert hinein blieb die geprägte Münze aus Gold, Silber oder Kupfer die Hauptform des Geldes. Eine Münzsorte avancierte unbestritten zur Weltwährung: der US-Dollar. Die Abkürzung aus »U« und »S« wurde eigentlich übereinander geschrieben, wobei der zweite Längsstrich durch das »S« entfiel ( ). Dieses Zeichen symbolisierte wie kaum ein anderes Macht und Reichtum. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es auch Eingang in die zeitgenössische Kunst fand. In der Gegenwart gehören bargeldloses Bezahlen, Online-Banking und Mobilbanking längst zum Alltag. Jeder spricht von der digitalen Währung Bitcoin (₿), die für Zahlungsvorgänge im Internet genutzt wird. _TF 2

38 Albrecht von Wallenstein Herzog von Mecklenburg, Friedland und Sagan, 1632 Taler, Münzstätte Gitschin (Jičín), Silber, Inv.‑Nr. Mü 18181 Albrecht von Wallenstein (1583–1634), der bekannte Feldherr des Dreißigjährigen Krieges, wurde 1629 vom Kaiser mit dem Herzogtum Mecklenburg belehnt. Von ihm wurden vielfältige Reformen initiiert, die das Land umfassend modernisieren sollten. Er plante auch große Umbauarbeiten in seinem Residenzschloss in Güstrow. Nach seinem Abzug wurden allerdings diese Maßnahmen von den aus dem Exil zurückkehrenden alteingesessenen Herzögen von Mecklenburg wieder zurückgenommen. Wallenstein betrieb eine umfangreiche Münzprägung. Seine Devise lautete: »Laßt stark münzen.« Und die Begründung lieferte er auch: »Jedoch tue ich dies nicht um des Nutzens Willen, sondern für die Reputation.« Deshalb setzte er alles daran, dass sein neuer Titel als Herzog von Mecklenburg sofort auf den Münzen erschien. Der Taler konnte im September 2024 mit großzügiger Unterstützung der Fritz Rudolf Künker GmbH & Co. KG in Osnabrück erworben werden. _TF

39 Barthold Meyer († 1702) Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin, 1701 Medaille auf den Hamburger Vergleich, Silber, Inv.-Nr. Mü 9966 Mit dem Hamburger Vergleich von 1701 entstanden die beiden Fürstentümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Weil dem Schweriner Herzog Friedrich Wilhelm (1692–1713) der bedeutendere Landesteil – eingeschlossen fast das gesamte frühere MecklenburgGüstrow – zugesprochen worden war, fühlte er sich als glücklicher Gewinner. Das neu austarierte Machtgefüge sollte in staatstragender Manier sogleich auf Medaillen seinen Ausdruck finden. Auf der Vorderseite erscheint Friedrich Wilhelm ganz in der Pose des Herrschers. Mit dem Rückseitenbild war die Botschaft verbunden, dass der Herzog die Einheit des Landes wiederhergestellt hatte. Als Zeichen der beiden ehemals getrennten fürstlichen Herrschaften in Mecklenburg wählte man zielsicher die jeweiligen Residenzschlösser in Schwerin (rechts) und Güstrow (links). Doch man beließ es nicht bei der bloßen Wiedergabe der beiden herzoglichen Schlösser. Vielmehr werden sie über Ketten am Nasenring des in der Mitte befindlichen gekrönten Stierkopfes vereint, der das Land Mecklenburg und die heimische Fürstendynastie symbolisiert. _TF

58 Ostdeutsche Perspektiven Die Sammlung des Staatlichen Museums Schwerin bietet einen nuancenreichen Überblick über die Entwicklung der ostdeutschen Kunst nach 1945 bis zu den Umbrüchen seit der Wiedervereinigung 1990. Die Werke zeugen von einer beeindruckenden Vielfalt an Stilrichtungen und Themen, die sich trotz aller kulturpolitischen Einschränkungen in der DDR entfaltete. Zu den häufigsten Motiven gehören Landschaften, Stillleben, Porträts und mythologische Figuren. Viele Werke haben eine metaphorische oder allegorische Ebene, die bisweilen auch Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen enthielt. Bereits zu DDR-Zeiten wurden aber auch Werke angekauft, die keinen direkten Bezug zur sichtbaren Realität haben, wie Arbeiten von Willy Wolff (1905–1985) und René Graetz (1908–1974). Diese Erwerbungen setzten besondere Akzente jenseits des Sozialistischen Realismus, der bis zum Ende der DDR das offizielle Ideal blieb. Einen Schwerpunkt der Sammlung stellt der umfangreiche Bestand der Mail Art dar. Diese entwickelte sich in den 1960er-Jahren und diente bis 1989 auch als subversives Kommunikationsnetz. Zu den markanten Werken zählen unter anderem die Grafiken des Ehepaars Robert Rehfeldt (1931–1993) und Ruth Wolf-Rehfeldt (1932–2024). Auch in Zukunft wird die Sammlung um Arbeiten aus der DDR und den Nachwendejahren erweitert, um die ostdeutsche Kunst in ihren vielen Facetten zu zeigen und künstlerische Reflexionen der Transformation seit 1990 sichtbar zu machen. Zu den jüngsten Erwerbungen zählt das Gemälde Und dann war der Himmel rot (2022) von Cornelia Schleime (* 1953). _SaS 6

60 René Graetz (1908–1974) Inborn Power [Natürliche Kraft] 1970 Bronzeguss, 73 × 44 × 35 cm Inv.-Nr. Pl. 529 René Graetz’ Inborn Power wirkt wie ein organisches Gebilde, das seine Dynamik aus dem Inneren heraus entfaltet. Die Plastik lässt den Einfluss der Stelen des Bildhauers Henry Moore (1898–1986) erkennen, den Graetz 25 Jahre zuvor in London kennengelernt hatte. Nachdem er am Anfang seiner künstlerischen Karriere vor allem realistische Abbilder des menschlichen Körpers geschaffen hatte wie in seinem Werk Stehender Akt von 1957, wandte er sich am Ende seines Lebens einer abstrakteren Darstellungsweise zu. Inborn Power bildet den Auftakt der Reihe Upright Figures (Aufrechte Figuren). Mit ihnen schuf Graetz aufstrebende, organische Gebilde, die sich deutlich vom staatlich verordneten Sozialistischen Realismus in der DDR abhoben. Auch der englische Titel lässt sich als Bruch mit der staatlich gelenkten Kunstproduktion verstehen. Eine weitere Fassung von Inborn Power aus weiß gefärbtem Beton ist Teil des Skulpturenparks Magdeburg. _SaS

61 René Graetz Stehender Akt, 1957 Bronzeguss, 71 × 19 × 15 cm Inv.-Nr. Pl. 475

62 Bernhard Heisig (1925–2011) Fliegenlernen im Hinterhof, 1996 Öl auf Leinwand, 215 × 200 cm Inv.-Nr. G 3785 Bernhard Heisig greift in Fliegen lernen im Hinterhof das für die Kunst in der DDR zentrale Thema des Ikarus aus der griechischen Mythologie auf. Dargestellt ist der missglückte Versuch eines Paares, mit einem Fluggerät, das an die frühen Flugapparate des Luftfahrtpioniers Otto Lilienthal erinnert, in die Welt hinauszufliegen. Doch das Unternehmen scheitert, das Paar stürzt ab. Die offensichtliche Unmöglichkeit, den Hinterhof zu verlassen, wird von Heisig ins Groteske überhöht. Das Flugobjekt gleicht Regenschirmen, der Rock der Frau verrutscht, während der Mann noch versucht, das Steuer festzuhalten, obwohl beide schon am Boden liegen. Mit gierigen Blicken ergötzen sich die Schaulustigen des Wohnblocks an dem Spektakel. Die raue und zum Teil derbe Bildsprache wird durch die grobe Textur des pastosen Farbauftrags unterstrichen. Mit dem Ikarus-Motiv spielt Heisig rückblickend auf die Lage vieler Menschen in der DDR an, die unter der politischen und künstlerischen Enge litten und doch meist nur mithilfe der Imagination dem Zustand zu entkommen versuchten. Im Nachwendebild kann der Hinterhof als Sinnbild allgemeiner Einengung verstanden werden und auf die Herausforderungen der neugewonnenen Freiheit hindeuten, mit denen sich viele Ostdeutsche nach 1990 konfrontiert sahen. _PP

Cornelia Schleime (* 1953) Und dann war der Himmel rot, 2022 Acryl, Asphaltlack und Schellack auf Leinwand 160 × 120 cm, Inv.-Nr. G 4142 Mit eindringlichem Blick zieht uns die Protagonistin in Cornelia Schleimes surreale Bildwelt hinein. Der titelgebende rote Himmel im Hintergrund verleiht der Situation eine beunruhigende und spannungsvolle Atmosphäre: Vor der jungen Frau liegt ein toter Vogel mit geöffneten Augen. Durch das strenge Taxieren der Betrachtenden und ihre schwarze Kleidung mit hochgeschlagenem Kragen geht ein bedrohlicher Ausdruck von ihr aus. Trägt sie die Verantwortung für den Tod des Tieres? Oder steht das bunte Gefieder des Vogels, das einen Abglanz im Haaransatz der jungen Frau zu haben scheint, als Sinnbild für deren eigene Vergänglichkeit und den Verlust von Freiheit, der auch ihr bevorsteht? Das Motiv des Vogels bildet ein wiederkehrendes Motiv in Schleimes Œuvre. Verschmelzungen von Tier und Mensch verweisen bei Schleime stets auf eine Synthese ihrer Innen- und Außenwelt, die mitunter düstere Erzählungen erzeugen. Schleime arbeitet hier mit Asphalt- oder Schellack, den sie zwar kalkuliert aufträgt, dessen Trocknungsprozess über Nacht jedoch unkontrollierbare Blasen und Verfärbungen hervorruft. Dadurch entsteht eine einzigartige Patina. Mit pastosen Farbschichten kaschiert Schleime die Risse und verdeutlicht damit die Verletzlichkeit ihrer Figuren. _PP 63

90 Kabinettstücke Die fast sagenhafte Bilderflut des niederländischen 17. Jahrhunderts ergoss sich zum großen Teil in kleinen und kleinsten Formaten in die bürgerlichen Wohnhäuser. Bekannt sind die vermutlich übertriebenen Schilderungen von Reisenden, die Gemälde noch in den profansten Zweckräumen fanden. Später kristallisierte sich der Gegensatz zwischen den gewaltigen Werken der klassischen italienischen Meister und den kleinen holländischen Gemälden noch stärker aus, sodass sich fürstliche Sammlungen in große Galerieräume für jene und danebenliegende Kabinette für diese strukturierten. Die Bildergalerie von Sanssouci ist ein einprägsames Beispiel. Der Herrscher des wirtschaftlich weniger potenten Mecklenburgs konzentrierte sich von vornherein auf die preiswerteren Niederländer, sodass der Anteil an Kabinettstücken im Schweriner Gemäldebestand besonders hoch ist. Sie werden in ihrer Themenfülle in einem eigenen Saal vorgeführt. Dabei wird nicht zwischen flämischen und holländischen Werken getrennt, eine Trennlinie, die erst durch die Nationenbildung im 19. Jahrhundert gezogen wurde. Zu den kleineren Formaten gehören auch die kostbarsten Stücke der Sammlung, etwa die weltberühmte Torwache von Carel Fabritius. Mit ihrer rauen Malweise entsprach sie aber dem Geschmack des 18. Jahrhunderts viel weniger als die entzückende Dame am Cembalo. Mit dem Preis von 3 000 Gulden war diese kleine Tafel des Feinmalers Frans van Mieris das teuerste Gemälde, das Herzog Christian Ludwig je erwarb. _GS 11

92 Carel Fabritius (1622–1654) Die Torwache, 1654 Öl auf Leinwand, 67,5 × 58 cm Inv.-Nr. G 2477 Die Aufhellung, die komplexe Raumsituation sowie die Behandlung der Farbe, sowohl in ihren reichen Lichtwerten als auch in ihrer plastischen Struktur, finden sich später auch bei anderen Meistern der Delfter Schule, vor allem bei Johannes Vermeer. Die Torwache gilt – neben dem Distelfink – als das schönste und berühmteste Gemälde von Carel Fabritius. Es ist wohl sein geheimnisvollstes. Ein dösender Soldat könnte ein Bild des Friedens sein – doch schleicht nicht jemand hinter dem Tor vorbei? Viele, wenn nicht sogar alle Fragen an das Bild bleiben unbeantwortet: Warum steht vor dem Tor eine Säule, dahinter eine Mauer? Wohin führt die Treppe ins Dunkle? Weshalb wird ein Tor bewacht, das mitten in der Stadt ist? Und warum verweigert der Maler uns sämtliche menschlichen Gesichter, selbst das der Figur auf dem Relief? Die Probleme der Größenverhältnisse und der Perspektive sind so verzwickt, dass in dem Werk geradezu ein kunsttheoretisches Manifest vermutet worden ist, ein Plädoyer für die Autonomie des Kunstwerkes. Die Welt sollte es nie erfahren, denn der Maler starb, nur 32 Jahre alt, im Entstehungsjahr des Gemäldes. Die Explosion eines Pulverlagers zerstörte sein Haus und ein Drittel der Stadt Delft. _GS

94 Frans van Mieris d. Ä. (1635–1681) Dame am Cembalo, 1658 Öl auf Holz, 31,6 × 24,9 cm Inv.-Nr. G 82 Eine junge Dame steht versunken am Cembalo. Neben ihrem Instrument erscheint ein Herr, der eine Laute spielt. Während vom umgebenden Raum nicht viel zu sehen ist, werden die Betrachtenden von dem prachtvollen Gewand der Dame gefesselt. So in sich gekehrt jede einzelne Figur ist, so schwelgerisch erscheint die Farbigkeit, die zugleich von äußerster Finesse ist. Die Stille des Moments, die Köstlichkeit der Darstellung, die Flüchtigkeit des festgehaltenen Augenblicks können ohne Weiteres mit ähnlich idealisierten Interieurs kultivierter Interaktion in gleichzeitigen Werken Gerard ter Borchs verglichen werden oder mit solchen Johannes Vermeers aus den 1660er- und 1670er-Jahren. Das Werk erweckt das Gefühl höchster Eleganz, die zum stillen Schauen einlädt – eine eigenartige Analogie zu der Weise, in der man der Musik des Paares lauschen würde, wäre es nicht gemalt. Doch wie das Bild gemalt ist, das wird in keiner Weise mitgeteilt. Frans van Mieris, der bedeutendste Meister der Leidener Schule, lässt nirgendwo Spuren der Pinselarbeit erkennen. Der Akt der Erzeugung dieses köstlichen Wunderwerks bleibt dem Publikum verborgen. _GS

95 Jan Claudius de Cock (1667–1735) Venus und Amor, 1715 Marmor, 59,5 × 31,3 × 24,7 cm Inv.-Nr. Pl. 183 Es ist die einzige niederländische Plastik in der Sammlung, die sicher durch Herzog Christian Ludwig erworben wurde und allein dadurch schon besondere Bedeutung für die Sammlungen besitzt. Sie stammt von einem der zwei meistgefragten Bildhauer Antwerpens und war sicher kein beiläufiger Ankauf, doch sind Dokumente zur Erwerbung bisher nicht aufgetaucht. 1752 steht sie in der Bildergalerie am alten Schweriner Schloss. Die Schönheitsgöttin als Mutter des Liebesgottes wird hier mit einer Innigkeit geschildert, die das mythologische Thema fast vergessen lässt. Der Künstler legt die Aufmerksamkeit ganz auf die Interaktion der zwei Gestalten. Der Amorknabe hält eine Muschel in der Hand, eigentlich ein Attribut der Venus selbst, und wendet sich damit an die Göttin, seine Mutter. Diese neigt ihm den Kopf zu. Ihre Rechte ist leicht auf seinen linken Unterarm gelegt, die den Köcher hält. Möglicherweise ist darin eine Anspielung auf das bekannte Thema der Entwaffnung Amors enthalten, da der Kleine nicht selten schalkhaft seine Pfeile verschießt. Auch Götter und Göttinnen unterliegen dann der unwiderstehlichen Gewalt der Liebe. _GS

116 Schatzkammer Zur Eröffnung des Großherzoglichen Museums 1882 wurden in diesem Raum Entwürfe für die Glasmalereien ausgestellt, die wenige Jahrzehnte zuvor im Dom beziehungsweise im Schweriner Schloss installiert worden waren. Seitdem man 1912 die umfangreichen Einbauten entfernt hatte, konnten hier immer wieder kleine Ausstellungen eingerichtet werden. Durch seinen kabinettartigen Charakter eignet sich dieser schon damals sogenannte Rundsaal in besonderer Weise für die Präsentation von Werken der angewandten Kunst. Aus den vielfältigen Sammlungen des Kunsthandwerks sind nun herausragende Objekte des 17. und 18. Jahrhunderts in der Schatzkammer vereint. Mit dem sich ausweitenden Handel seit der Renaissance gelangten vermehrt kostbare Materialien und fremdartige Objekte aus anderen Regionen der Welt nach Europa. In fürstlichen und bürgerlichen Kunst- und Naturalienkammern wurden sowohl die Naturprodukte als auch die mit Raffinesse und Bravour entwickelten Schöpfungen sich spezialisierender Kunsthandwerker gesammelt, geordnet, studiert und ausgewählten Gästen vorgeführt. Die ausgestellten Schätze sind überwiegend aus den herzoglichen Sammlungen hervorgegangen und schon über Jahrhunderte in Mecklenburg nachzuweisen, etwa der Prunkhumpen, der Drachenpokal oder der Florentiner Kabinettschrank. Die Objekte laden zur staunenden Betrachtung ein, zugleich bieten rar gewordene Meeresschnecken oder Elfenbein, dessen Handel in vielen Ländern verboten ist, Anlass für einen differenzierten Blick auf Herrschaftsdarstellung. _KAM 17

118 Prunkhumpen mit Darstellung heroischer Frauengestalten aus dem Alten Testament, etwa 1610 Hinterglasmalerei: Hans Jakob Sprüngli Fassung: Christoph Jamnitzer Doppelwandige Hinterglasmalerei, Silber, vergoldet Inv.-Nr. KH 879 Der Prunkhumpen mit vergoldeter Silberfassung von Christoph Jamnitzer entstand um 1610 und zählt zu den herausragenden Kunstwerken der Schweriner Sammlung. Die gläserne Wandung, gestaltet von Hans Jakob Sprüngli, wurde in aufwändiger Doppelwandtechnik gefertigt und zeigt drei Heldinnen des Alten Testaments: Judith mit Schwert und dem Haupt des Holofernes, die Unbekannte aus Thebez mit dem erhobenen Felsen, mit dem sie Abimelech erschlug, sowie Jael mit Hammer und Zeltpflock – den Mordwerkzeugen gegen Sisera. Die räumliche Illusion der Innenräume mit Landschaftsausblicken verstärkte Sprüngli gekonnt durch architektonische Details wie zum Beispiel einen perspektivisch ausgerichteten Fliesenboden. Die Bildfelder führte er in Hinterglasmalerei mit Ölfarbe aus – eine Technik, bei der die Bemalung in umgekehrter Reihenfolge erfolgt: Sprüngli begann mit den erhabensten Partien. Für die Körper der Figuren ergänzte er fein bemaltes Pergament, das er passgenau einfügte, ein Verfahren, das später als »trügerische Hinterglasmalerei« bezeichnet wurde. Weltweit sind nur vier Humpen von Sprüngli in dieser kunstvollen Technik bekannt. _PP

119 Scherenschleifer bei der Arbeit, etwa 1710–1720 Goldschmiedearbeit: Johann Heinrich Köhler (1669–1736) Elfenbeinschnitzerei: wohl Dresden Elfenbein, Silber, vergoldet, emailliert, Barockperle, Diamanten, Farbglas, Holz Inv.-Nr. KH 1914 Johann Heinrich Köhler, Hofjuwelier Augusts des Starken in Dresden, schuf eine Reihe solch virtuos gestalteter Schatzkunststücke. Die jedoch von anderer Hand gefertigte Elfenbeinstatuette zeigt einen Scherenschleifer. Vertreter dieses Gewerks mussten als Hausierer umherziehen und ihre Dienste anbieten, um den kargen Lebensunterhalt zu verdienen. Schon im 16. und 17. Jahrhundert sind ärmlich und bizarr geschilderte Straßenhändler vor allem in der Grafik verbreitet. Im Barock entwickelte die höfische Gesellschaft ein verklärendes Interesse am einfachen Volk. Um das festgefügte Zeremoniell zeitweilig zu lockern, verkleidete man sich bei großen Festen in sogenannten Wirtschaften als Handwerker*innen, Bauern und Bäuerinnen oder Gärtner*innen. Die Juwelierplastiken, die eine Fülle von edlen Materialien und Techniken vereinen, fanden Eingang in die fürstlichen Schatzkammern, wo Spiegel ihre prächtige Wirkung steigerten. Einen Nachhall fand dieser Themenkreis wenig später in zahlreichen, ebenfalls vielfarbigen Statuetten von Handwerker*innen und Händler* innen aus Meissener Porzellan. _KAM

Autor: XxxxxYyyyyyy 120 Turbanschneckenpokal, sogenannter Drachenpokal Fassung: Nürnberg (?), etwa 1600 Fuß: Johann Joachim Busch (1720–1802), 1752 Grüne Turbanschnecke (Turbo marmoratus), Silber und Messing, vergoldet Inv.-Nr. KH 887 Den Korpus dieses eindrucksvollen Pokals bildet das asymmetrisch gewundene Gehäuse einer Meeresschnecke. Die Grüne Turbanschnecke ist im tropischen Indopazifik beheimatet. Sie kann einen Durchmesser von mehr als 20 Zentimetern erreichen. Um die prächtige Wirkung zu erzielen, wurde die grüne Oberfläche bis auf die vielfarbig schillernde Perlmuttschicht abgeschliffen. Das imposante Kunstkammerstück entstand in zwei verschiedenen Epochen – im Abstand von etwa 150 Jahren. Um 1600 gestaltete ein Goldschmied, vielleicht in Nürnberg, die kostbare Naturalie zu einem Tierpokal. In Archivalien des 18. Jahrhunderts wird dieser als Drache angesprochen. Spangen und Ränder sind mit äußerst fein gravierten sowie mit reliefierten Friesen aus Fantasiewesen, Masken oder Früchten verziert. Der schwere Fuß aus vergoldetem Messing ist eine Ergänzung aus dem Jahr 1752. In herzoglichem Auftrag fügte der Schweriner Bildhauer Johann Joachim Busch ihn in der zu dieser Zeit modernen Formensprache des Rokokos hinzu. _KAM

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