Lovis Corinth Skizze wird Malerei stforum deutsche erie ensburg
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3 schSkizze wird Malerei Ausstellungskatalog herausgegeben von Mona Stocker für das Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg mit Beiträgen von Christiane Adolf, Natascha Mazur und Mona Stocker Sandstein Verlag
8 Vorwort 13 Grußwort Corinth und seine Bilder 16 Die Perfektionierung des Motivs – Von der Skizze zur Komposition 20 Das ABC der Motive – Q wie Kuh 26 Das ABC der Motive – V wie Venus Lovis Corinth – Person und Herkunft 34 Selbstbildnisse und Autofiktion 40 Der Vater – Mentor und bevorzugtes Modell 44 Zufluchtsort Königsberg – Das Wohnzimmer des Vaters 52 Krankheit und Tod des Vaters 56 Herkunft – Tapiau, Ostpreußen Verzweifeln an der Kunst 64 Frühwerke aus Antwerpen 72 Großstadtvergnügungen – Paris und München Erste Erfolge in der Genremalerei 78 Das »Erstlingsbild« 84 Sinne und Triebe Profilierung im literarischen Figurenbild 90 Die ersehnte Anerkennung des Pariser Salons 96 Verdruss an der Malerei – Neuerfindung über die Zeichnung 102 Durchbruch in Berlin Inhalt
Bildnisse des Menschen 110 Frans Hals – Lebendige Porträts 116 Der Geiger Andreas Weißgerber – Porträtmarathon Das Leben als Herausforderung 122 Leiden an der Welt 128 Bangen und Hoffen – Schlaganfall Landschaften am Wasser 136 Wasserfreuden am Meer und im Gebirge 142 Auf dem Gipfel – Familienglück am Walchensee Maltechnik & Provenienz 154 Beobachtungen zur Entwicklung der Maltechnik von Lovis Corinth 172 Auf Spurensuche – Provenienzforschung zu den Gemälden von Lovis Corinth 180 Provenienzübersicht der Gemälde von Lovis Corinth in der Sammlung des KOG Anhang 186 Literaturverzeichnis 189 Bildnachweis 192 Impressum
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15 Lebender Kolumnentitel Corinth und seine Bilder C
16 Mona StockerD Die Perfektionierung des Motivs – Von der Skizze zur Komposition Lovis Corinth »Modern sind alle die Bilder, welche für alle Zeiten kraft ihres hohen künstlerischen Wertes über alle Strömungen hinaus eine fortwährende lebendige Wirkung auf uns Menschen ausüben und deshalb immer in der Mode bleiben werden.«1
17 Corinth und seine Bilder Lovis Corinth ist eine der bedeutendsten deutschen Künstlerpersönlichkeiten der Moderne. Mit seiner puren und absoluten Malerei prägte er die Kunst des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist er fest im 19. Jahrhundert verwurzelt. 2025 jährt sich sein Todestag zum 100. Mal – Anlass für eine eingehende Analyse der Bildgenese des Künstlers. Die Bearbeitung und Auswertung des Bestands von zwölf Skizzenbüchern von Lovis Corinth in der Grafischen Sammlung des Kunstforums Ostdeutsche Galerie in Regensburg (KOG) ermöglicht erstmals in größerem Umfang einen detaillierten Einblick in seinen Arbeitsprozess. Welche Motive interessierten Corinth, welche Begebenheiten oder Einfälle hielt er spontan in seinen Skizzenbüchern fest, im Studium oder auf Reisen? Und welche flüchtigen Eingebungen formierten sich schließlich zu bildtauglichen Szenen? Die Skizzenbücher spiegeln verschiedene Phasen aus Corinths Schaffenszeit. Sie reichen aus dem Jahr 1876, seinem ersten Studienjahr an der Kunstakademie in Königsberg (heute Kaliningrad, Russland), bis in die 1920er-Jahre am oberbayerischen Walchensee – die Periode, als er auf dem Zenit seines Ruhms angelangt war. Alle zwölf Skizzenbücher sowie ein von Corinth mit eingeklebten Zeichnungen gefülltes »Skizzen-Album« werden in einem begleitenden Bestandskatalog vollständig veröffentlicht und der Forschung zugänglich gemacht.2 Ansinnen des vorliegenden Ausstellungskataloges ist es, anhand der Skizzenbücher exemplarisch den Prozess zu veranschaulichen, wie Corinth seine Gemäldekompositionen sorgsam Schritt für Schritt entwickelte. Gilt Corinth gemeinhin als Inbegriff des genialischen Schnellmalers, so wird diese Vorstellung dahingehend korrigiert werden müssen, dass er es zwar vermochte, »ein Bild geschickt herunterzuhauen«,3 bei dem alles saß, dass er dafür aber bereits – für Außenstehende unsichtbar – erhebliche gedankliche und visuelle Vorarbeit geleistet hatte (Abb. 1). Malerei und Grafik sind bei der Untersuchung der Werkgenese nicht voneinander zu trennen. Die Verschränkung und Vernetzung der unterschiedlichen Bildmöglichkeiten und -wirkungen, die Corinth gezielt durch den Einsatz verschiedener künstlerischer Techniken und Mittel erzeugte, wurde bislang wenig gewürdigt.4 Dabei ist dieses Arbeiten regelrecht als ein wesenhafter Zug von Corinth zu werten. Die Wechsel von Grafik zu Malerei und umgekehrt bedingen sich zwingend. Gerade durch das erweiterte intermediale Ausspielen hat Corinth die einem Motiv innewohnenden gestalterischen Möglichkeiten nach seiner persönlichen Maßgabe bis zur Perfektion getrieben. Corinth in der Regensburger Sammlung Die aufgrund ihrer Korrespondenz mit den Skizzenbüchern ausgewählten Gemäldekompositionen, die in diesem Katalog hinsichtlich ihrer Entstehung untersucht werden, erstrecken sich von – zuweilen in Vergessenheit geratenen – Frühwerken bis hin zu den späten, berühmten Walchenseebildern. Die Abfolge orientiert sich weitestgehend an einer Chronologie von Hauptwerken innerhalb der Gemälde und nimmt Themenstränge da auf, wo sie am prägnantesten auftreten. Allerdings dient dies nur als vages Gerüst, da viele Motive zeitlebens gültig 1 Lovis Corinth: Gedanken über den Ausdruck ›das Moderne in der bildenden Kunst‹ und was sich daran anknüpft, in: Englert 1995, S. 85–91, hier S. 85. 2 Best.-Kat. Regensburg 2025. 3 Kuhn 1925, S. 66. 4 Bislang wurde die werktechnische Herangehensweise Corinths an die Ausarbeitung seiner Kompositionen über Skizzenbuch, Vorzeichnungen und Ölskizze nur einmal untersucht von Gerhard Gerkens, in: Ausst.-Kat. Bremen 1975, S. 40–48, anhand des Gemäldes Die Kindheit des Zeus, 1905/06. – Summarisches Herausstellen einzelner Verbindungen von Skizzenbuchblättern zu Gemäldekompositionen in: Ausst.- Kat. Bremen 1975 a. Abb. 1 Handbild von Lovis Corinth, 26. Februar 1925, aus: Handbilder berühmter Künstler Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv
18 bleiben und nicht auf bestimmte Phasen fixierbar sind. Soweit möglich bildet der Sammlungsbestand des KOG mit zwölf Gemälden und mehreren hundert Grafiken von Lovis Corinth die behandelten Schwerpunkte ab. Die Vielzahl hochrangiger Werke Corinths im KOG hat mit der Entstehungsgeschichte des Museums ebenso zu tun wie mit den engen Verbindungen seiner früheren Direktoren mit den Erben des Künstlers. Ist es der Stiftungsauftrag des KOG, die Erinnerung an das Kunstschaffen der ehemals deutsch geprägten Gebiete im heutigen östlichen Europa präsent zu halten, so war Corinth als gebürtiger Ostpreuße prädestiniert für die Sammlung. Seine beiden Kinder, die seit dem Zweiten Weltkrieg in den USA lebten, hielten intensiven Kontakt nach Deutschland, um dem Werk ihres Vaters eine würdige Aufbewahrung zu sichern. Viele Gemälde, die Corinth persönlich besonders nah waren und die er zeitlebens in seinem Atelier hängen hatte, gelangten auf diese Weise nach Regensburg – nicht zuletzt ein großer Teil der Skizzenbücher. Zwischenzeitlich sollen gar Gedanken durchgespielt worden sein, das Museum nach Corinth zu benennen. Kam dies auch nicht zum Tragen, so spiegelt sich die Wertschätzung seines außergewöhnlichen künstlerischen Œuvres doch in der Vergabe des Lovis-Corinth-Preises wider, den das KOG seit 1974 alle zwei Jahre an Künstlerinnen und Künstler für ein herausragendes Lebenswerk vergibt, das mit dem östlichen Europa verbunden ist. Wie ein Bild entsteht Beim Durchblättern der Skizzenbücher rückt man sehr nahe an die Persönlichkeit Corinths heran. Man sieht die ersten Striche, mit denen er Gesehenes oder Erdachtes festhielt, Zeichnungen, die »verborgen« in ihm weiterwirkten, jedoch ursprünglich nicht für fremde Blicke gedacht waren – abgesehen von Ausnahmefällen herausgerissener Blätter mit besonders gelungenen Zeichnungen. Durch eine Häufung von Skizzenbüchern aus den ersten Jahrzehnten seiner künstlerischen Produktion werden besonders viele Frühwerke Corinths aus den 1880er- und 1890er-Jahren wieder lebendig. Gerade an diesen ersten Bildern hing Corinth offenbar mit gewisser Nostalgie und gab sie nie weg. Sie waren, wie seine Frau Charlotte Berend-Corinth (1880–1967) festhielt, »immer um uns, sie hingen an den Wänden des großen Ateliers in der Klopstockstraße in Berlin. Sie standen auf Staffeleien, sie lehnten gegen alte Schränke.«5 Mit anderen Frühwerken hingegen haderte Corinth so sehr, dass er sie sogar zerstörte. In jedem Fall aber scheint er für eine professionelle fotografische Dokumentation seiner Bilder gesorgt und diese auch aufbewahrt zu haben. Das Bildarchiv des Münchner Bruckmann-Verlags, in dem das von Charlotte Berend-Corinth zusammengestellte Werkverzeichnis der Gemälde Corinths erschien und das in der Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München verwahrt ist, erweist sich als unschätzbare Fundgrube.6 Corinth ist bei der Erstellung seiner komplex komponierten Gemälde sehr systematisch vorgegangen. Erste Zeichnungen im Skizzenbuch, meist mit Bleistift, erfassen die Gesamtsituation, die in Hinblick auf Bildausschnitt und Größe der Figuren in weiteren Zeichnungen angepasst wird. Dazu gehören auch Einzelskizzen von bildbestimmenden Details. »Wenn der Maler ein Bild plant«, schreibt Corinth unter dem Stichwort »Die Komposition« in seinem Lehrwerk Das Erlernen der Malerei, »so pflegt er vorher eine Kompositionsskizze davon zu entwerfen mit Stift oder mit Farbe. Hierdurch verschafft er sich Klarheit über die Gruppierung der Figuren, über die Fleckenwirkung der Farben und über das Format.« Auch die »Raumaufteilung« innerhalb der Möglichkeiten eines Hoch- oder Querformats hat er mit dieser »Art geistiger Gymnastik« bereits absolviert und verinnerlicht, denn sie ergibt sich aus der Anordnung der Figuren.7 Die der Zeichnung folgenden Ölskizzen sind mit Pinsel, aber in zeichnerischem Duktus summarisch ausgeführt. Die Bildbestandteile sollen »nur in den Hauptsachen angedeutet werden. Die Richtigkeit kommt nicht wesentlich in Betracht, falls nur der Ausdruck des Tuns und Gebarens getroffen« und die Beleuchtung geklärt ist.8 Nach all diesen vorbereitenden Maßnahmen kann das Gemälde schließlich in seiner endgültigen Form ausgeführt werden. Hielte man den Prozess hiermit für abgeschlossen, so läge man im Falle von Corinth fehl. Ähnlich wie er bisweilen mehrere Jahre an der Entwicklung einer guten Form feilte,9 behielt er ein gelungenes Motiv weiter bei und verarbeitete es – oft wiederum erst lange Zeit später – in neuer Formulierung. Ab 1919/20 finden sich druckgrafische Wiederholungen vieler Gemälde, meist in Form von Radierungen. Corinth machte sich dabei gar nicht die Mühe, das Motiv zunächst zu spiegeln und dann auf die Radierplatte zu bringen. Nur dadurch hätte er erreicht, dass die grafische Darstellung der gemalten in ihrer Ausrichtung entsprechen würde. Er aber radierte das Motiv, wie es war, und erhielt im Abzug eine spiegelbildliche Version. Ganz offensichtlich war ihm an einer neuen Sicht auf das Bekannte gelegen. Auch straffte er die Kompositionen nicht in Hinblick auf eine einfache Lesbarkeit der Grafiken. Im Gegenteil wird die Entschlüsselung der Darstellung regelrecht erschwert. Statt abgrenzender Konturen laufen vehemente, fahrige Linien über die Fläche und formen nur schemenhaft das Figürliche nach. Dennoch darf man in den späten Grafiken die Quintessenz von Corinths künstlerischem Ausdruckswollen sehen. Sie stehen häufig am Ende einer Motiventwicklung.
19 Corinth und seine Bilder Durch Corinths Festhalten an bestimmten Motiven sah sich bereits der erste Bearbeiter des Grafischen Werkverzeichnisses von Corinth, Karl Schwarz (1885–1962), herausgefordert: »Bei der häufigen Wiederkehr derselben Motive mußte der Text möglichst ausführlich gestaltet werden, um die, oft nur unbedeutenden Unterschiede deutlich hervortreten zu lassen.«10 Denn in der Tat reichte Corinth ein einzelnes Ergebnis als Resultat seiner kompositorischen Anstrengungen nicht aus. Vielmehr wiederholte er seine Motive, modifizierte sie, wandelte sie ab oder transponierte sie aus einer Technik in eine andere. Vollendung des Ichs Wie aus dieser fast manischen Suche nach Perfektion hervorgeht, arbeitete Corinth sein Leben lang intensiv an seiner künstlerischen Vervollkommnung, was er auch in seinem Lehrbuch als Devise ausgibt: »Die Hauptsache ist aber immer die Arbeit. Nur durch intensivstes Hineinversenken in die Kunst kann man das Ziel erreichen.«11 Trotzdem haderte er immer wieder mit der Diskrepanz zwischen Kunst und Wirklichkeit: »Kein Werk gab ihm das, was er sich aus seiner Vision heraus vorgestellt hatte. Kopfschüttelnd sagte er immer wieder: ›Ich kann es nicht so machen, wie es in der Natur ist, wie ich es sehe.‹«12 Gerade aus dieser Beharrlichkeit rührt jedoch der spezifische Stil Corinths her. Was bisweilen als Tendenz zur Abstraktion in seinem Werk beschrieben wurde, ist als Läuterung des realitätsgegebenen Motivs zu reiner Farbmalerei zu verstehen. Die hohe Kunst der Verdichtung und Sublimierung gelang Corinth nur dank der absoluten Beherrschung des Sujets, das sich im Laufe seines Schaffens durch stetes Wieder-Malen tief in seinem Bildgedächtnis verankert hatte. So entstand seine »Anschauung, die sich nur mehr auf die große Form und auf die malerischen Zusammenhänge eingestellt hat.«13 Corinth habe »dazu beigetragen, den Malprozeß weitgehend zu verselbständigen, so daß die Gegenstände [...] nur noch den Anlaß abgaben, eine in sich intensive Farbensymphonie zu entfalten.« Wobei »die enormen Pinselrhythmen nie abstrakt werden, sondern dauernd Wirklichkeit vermitteln.«14 Corinth hatte in den 1920erJahren mit seiner technischen Bravour eine vollkommen wirklichkeitstreue und doch weit über diese Wirklichkeit hinausgehende Gestaltungsmacht erreicht. Die Zeitgenossen waren sich einig, dass Corinth unbeirrbar seinen individuellen Weg verfolgte, »völlig selbständig, ohne sich um irgendeines Gunst oder Mißgunst zu kümmern, auf das verehrte Publikum hustend und auf die hiesigen Künstler erst recht hustend«, wie sein Freund Walter Leistikow (1865–1908) treffend charakterisierte.15 Losgelöst von allen denkbaren Erwartungen oder Anforderungen erstrebte Corinth »lediglich die Vollendung seiner eigenen Persönlichkeit.«16 5 Berend-Corinth 1958, S. 9. 6 Mit herzlichem Dank an Dr. Franziska Lampe für ihre Unterstützung. 7 Corinth 1920, S. 88. 8 Corinth 1920, S. 91. 9 Vgl. Ausst.-Kat. Bremen 1975 a, Kat. 34, S. 55, ohne Abb.: Entwurf zum Höllensturz, 1892, Bleistift. »Das Gemälde ›Höllensturz‹ (WK 209) entstand erst 1901. [...] Die Zeichnung ist ein Beispiel dafür, daß Corinth nicht selten lange zögerte, bevor er eine Bildidee realisierte.« 10 Schwarz 1985, S. 6 f. 11 Corinth 1920, S. 92. 12 Olschki 1926, S. 245. 13 Glaser 1922, S. 229. 14 Roh 1952, S. 338. 15 Rohde 1941, S. 123 f. 16 Rohde 1941, S. 98.
34 Lovis Corinth »Das beste und willigste Modell aber ist ›man selbst‹. Das Selbstporträt ist von allen Malern gepflegt worden, namentlich Rembrandts Selbstbildnisse zählen zu den berühmtesten Werken der Welt. Die Sucht, sich selbst kennen zu lernen; die Möglichkeit, jeden Augenblick, in welchem man sonst unbeschäftigt wäre, auf diese Weise lehrreich ausnutzen zu können, die Billigkeit des Modells, denn es ist nur ein guter Spiegel nötig; – am allermeisten aber die Lust, ganz nach eigenem Gutdünken, ohne jede andere Beeinflussung das Arrangement und die Auffassung treffen zu können, macht das Selbstporträt zum bevorzugtesten Studienmittel aller Maler.«1 S Selbstbildnisse und Autofiktion Mona Stocker
35 Lovis Corinth – Person und Herkunft Selbstbildnisse »›Ich‹, 62 Jahre« – so präsentiert Lovis Corinth sich selbst in dem kleinen Gemälde aus dem Jahr 1920 (Kat. 14). Das beengte Format steigert die Präsenz, die Persönlichkeit sprengt beinahe den engen Rahmen. Mit seinem Blick konfrontiert Corinth sowohl sich selbst als auch die Betrachtenden. In der typischen, heftigen Handschrift, die die Pinselschläge von rechts oben nach links unten wegführt, gehen das nahezu frontal wiedergegebene Gesicht und der Hintergrund in einheitlicher Textur auf. Die Töne sind sorgsam zwischen Weiß und Schwarz, Braun und Grau abgestimmt. Das braunrötliche Haar findet Korrespondenz in einem vertikalen Streifen links, wohl dem Rahmen eines Spiegels. Die blaugrauen Augen fixieren ihr Gegenüber aus unmittelbarer Nähe und zugleich kritisch distanziert. Die dunklen Verschattungen im Hintergrund sind nicht nur als Spiegelungen zu bewerten. Ebenso wie die sich von links gnadenlos in das Bild schiebende schwarze Leere verweben sie die seit dem Schlaganfall von 1911 gefühlten Abgründe der Todesbedrohung in die Malerei. Ein fragiler Augenblick ist eingefangen, als könne das Bildnis ebenso wieder in bedeutungslose Einzelstriche zerfallen. Mag man die Gegenüberstellung der eigenen Person mit dem Tod in Corinths Bildern der ersten Schaffensphasen als Koketterie und Wettstreit mit berühmten künstlerischen Vorbildern einordnen, so wird der Tod von 1911 an ein inneres, unvermeidbares Thema. In der Mappe Totentanz (1920–1922) tritt der personifizierte Tod als permanenter Schatten des Künstlers auf, als sein zweites Selbst (Kat. 15). Die offensiv getragene Armbanduhr läuft unerbittlich ab, selbst wenn das unbeirrbare Künstlerauge bis dahin alles Wesentliche festhält. Corinth hat die ostentative Herausforderung der Endlichkeit als künstlerischen Impuls angenommen. »Mit Schmerz und dem Wissen um die eigene Todesnähe ›protokolliert‹ Corinth sich in Gegenwart und Zukunft zugleich.«2 Als bestünde kein Bild von ihm auf Dauer, als böte keine Selbstansicht Verlässlichkeit, porträtierte Corinth sich in jedweder künstlerischen Technik, seit 1900 sogar regelmäßig. »Wer sich immer wieder selbstkritisch prüft, hält sich selbst den Spiegel vor; niemals bei einem Maler haben daher die Selbstbildnisse eine derartige 1 Corinth 1920, S. 136. 2 Stilijanov-Nedo 1993, S. 62. Kat. 14 Lovis Corinth Selbstbildnis (BC 805) 1920, Öl auf Holz, 59 × 50 cm Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 6107, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland
36 Bedeutung gehabt wie bei Corinth.«3 Dabei stand er 1920 längst am Gipfel seines Erfolgs. »Sein Name wurde für Berlin so populär«, erinnerte sich die Familie, »daß sehr häufig ein schwieriges Wort am Telefon buchstabiert wurde: ›C‹ wie Corinth« (Kat. 16)4 – das »C« als Synonym für den stadtbekannten Maler, der unermüdlich an seinem Werk arbeitete. Auf einem Gemälde aus dem Jahr 1914 gibt Corinth Einblick in sein Atelier in der Berliner Klopstockstraße, wo sich auch die Wohnräume der Familie befanden (Kat. 134). Im Dreiviertelporträt blickt er aus dem Bild, gekleidet im Malerkittel. Die farbbewehrte Palette hält er in der einen Hand, den an die Leinwand gesetzten Pinsel in der anderen. Im Hintergrund staffeln sich auf dem Boden weitere Gemälde. Ein Widderschädel als Requisite wie als Memento mori fehlt nicht. Das Selbstbildnis, das Corinth um 1878 in ein Skizzenbuch zeichnete, ist eines seiner frühesten Selbstzeugnisse.5 Der 20-Jährige war damals Kunststudent an der Königsberger Akademie. Das Blatt, das später aus der Bindung herausgelöst wurde, konnte von Sebastian Schmidt im Regensburger Skizzenbuch II verortet werden (Kat. 17).6 Über dem nur schemenhaft angedeuteten Oberkörper ist das Gesicht mit dem Vollbart und den wachen Augen mit suchendem Strich möglichst korrekt herausgearbeitet, ebenso wie die rechte Hand. In seiner Selbstwahrnehmung als angehender Künstler gibt sich Corinth zeichnend. Die Sicht auf die Welt ist so ungetrübt wie der Wille zum Erfolg. Leben und Werk – »Die Lebenstatsachen« 7 Corinths Karriere als Akademiker und Künstler war durchaus nicht zwingend vorgezeichnet. Aus einfachen Verhältnissen kommend, wird er 1858 im kleinen Städtchen Tapiau in Ostpreußen geboren. Ab 1866 darf Franz Heinrich Louis Corinth, der sich später Lovis Corinth nennen wird, das Kneiphöfische Gymnasium in Königsberg besuchen. Von 1876 bis 1880 studiert er an der dortigen Kunstakademie. 1880 wechselt er an die Akademie in München. Auslandsstudien absolviert er 1884 in Antwerpen und von 1884 bis 1887 in Paris an der Académie Julian. Nach kurzen Stationen in Berlin und Königsberg ist er ab 1891 als freischaffender Künstler in München 3 Rohde 1941, S. 76. 4 Corinth 1990, S. 152, zit. nach einem Text von Thomas Corinth. 5 Das erste entstand 1873; vgl. Corinth 1926, Abb. bei S. 60. 6 Best.-Kat. Regensburg 2025, S. 11 ff. und Skizzenbuch II. – Vgl. Ausst.-Kat. Bremen 1975, Kat.-Nr. 4, S. 44, Abb. S. 105.; vgl. Stilijanov-Nedo 1993, S. 56 f. Kat. 15 Lovis Corinth Tod und Künstler (Selbstbildnis) Blatt 1 der Mappe: Totentanz (Müller 546) 1920–1922, Radierung, Kaltnadel, Vernis Mou, 24 × 17,8 cm (Platte), 30,2 × 24,3 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 18796.1
37 Lovis Corinth – Person und Herkunft Kat. 16 Lovis Corinth Initiale C (Selbstbildnis) aus: Das ABC in Bildern (Schwarz L 315) 1917, Kreidelithografie, 29,8 × 22,7 cm (Darstellung), 45,6 × 36,6 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14790.3 Kat. 17 Lovis Corinth Selbstporträt mit Ring um 1878 (Skizzenbuch II, um 1879), Bleistift, 18,7 × 27,4 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14139 recto
38 tätig, bevor er 1901 nach Berlin zieht, wo er bis zu seinem Lebensende bleiben wird. In seinem Atelier in der Klopstockstraße richtet er eine Malschule ein. Seine erste Schülerin, Charlotte Berend, wird 1903 seine Ehefrau. Bald danach kommen der Sohn Thomas (1904–1988) und die Tochter Wilhelmine (1909–2001) auf die Welt. 1911 übernimmt Corinth den Vorsitz der Berliner Secession, 1918 wird er zum Professor ernannt. 1919 errichtet seine Frau ein Haus am Walchensee, das die Familie von Berlin aus bis zu Corinths Tod in Zandvoort 1925 regelmäßig aufsucht.8 Diese knapp resümierten Eckdaten von Corinths Biografie werden in den folgenden Kapiteln mit Details zu seinen Wegstationen »ausgemalt«, im Einklang und Wechselspiel mit seinen behandelten Werken. Autofiktion – »Erlebtes und Erlogenes«9 Neben seinem bildkünstlerischen Schaffen hat Lovis Corinth früh auch zu schreiben begonnen. Was womöglich zunächst als Notat zur Selbstreflexion beabsichtigt war und den gleichen 7 Rohde 1942, o. S. 8 Lebensdaten nach Berend-Corinth 1992, S. 215–217, und Corinth 1979, S. 337–360. 9 Berlin, Akademie der Künste, Archiv, Nachlass Lovis Corinth, Signatur Corinth 126; Vertrag mit Verlag Bruno Cassirer, Vorschlag Cassirers als Buchtitel, erschienen später als Legenden aus dem Künstlerleben. 10 Corinth 1918. 11 Corinth 1920. 12 Berend-Corinth 1958; nach Bearbeitung durch Béatrice Hernad Nachtrag auf 1005 Gemälde, Berend-Corinth 1992. 13 Corinth 1926. Das posthum veröffentlichte Druckwerk ist nicht identisch mit dem Manuskript zu dieser Autobiografie; Pese 1998, S. 46. Berend- Corinth 1958 a, BerendCorinth 1958 b. 14 Corinth 1979; der darin kommentierte Nachlass ist größtenteils im Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt. 15 Ihr Bruder Thomas sei »dem Namen Corinth und allem was damit zusammenhing auf fast eigensinnige Weise verpflichtet.« Sie selbst empfinde belastend, »dem ganzen Aufbau der Vergangenheit, der sich mir oft schier zermalmend aufdrücken will, standzuhalten«; Corinth 1990, S. 264, 269. 16 Ausst.-Kat. Lübeck 1965, o. S. (Hans-Friedrich Geist). 17 Stilijanov-Nedo 1993, S. 66. 18 Stilijanov-Nedo 1993, S. 66. 19 Corinth 1926, Vorwort, o. S. Kat. 18 Lovis Corinth Selbstbildnis mit Gattin (Schwarz 23) 1904, Kaltnadel, 19,6 × 17,6 cm (Platte), 38,6 × 28,5 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 1295
39 Lovis Corinth – Person und Herkunft Ansprüchen gehorchte wie die Selbstbildnisse, hat er schnell professionalisiert. Corinths Lebensgeschichte wurde ebenso veröffentlicht wie Anekdoten aus seinem lebhaften Künstlerdasein10 und ein Lehrbuch zum Malen und Zeichnen.11 Bisweilen wird Corinth gar als Doppelbegabung eingestuft. Auch die Schriften erfüllten einen doppelten Zweck. Sie ließen ein autofiktional untermauertes, ruhmreiches, wenngleich bisweilen ironisch gebrochenes Künstler-Selbstbild erstehen und erschlossen zugleich eine zusätzliche Einnahmequelle. Ein erheblicher Teil des Nachruhms Corinths ist den publizistischen Aktivitäten seiner Familie zu verdanken, die damit seinen Namen und sein Werk präsent hielt und dafür sorgte, dass seine Bilder regelmäßig in großen Einzelausstellungen zu sehen waren. Seine Frau Charlotte Berend-Corinth, selbst hochtalentierte Künstlerin (Kat. 18), widmete ihre Lebenszeit als Witwe der zeitaufwendigen, akribischen Erstellung eines Werkverzeichnisses der Gemälde von Lovis Corinth, das 1958 mit 983 Einträgen erschien.12 Außerdem legte sie die biografische Lesart fest und begründete die Deutungshoheit durch die Familie, indem sie die Selbstbiografie Corinths edierte und zwei eigene Berichte über ihr Leben mit ihm veröffentlichte.13 Den letzten Schliff besorgte der Sohn Thomas Corinth, der die in der Familie gesammelten und gehüteten Dokumente zu Leben und Schaffen des Vaters 1979 in einem großangelegten, detailreichen Band herausgab.14 Einzig Wilhelmine Corinth, die jüngere Tochter, versuchte ansatzweise und leise, der Familienbürde zu entkommen, und wagte geringfügige Infragestellungen des Künstler- und Meisterkultes, der ihren Vater umrankte.15 Verlorenheit im Selbstanspruch Die Schwere des Lebens attackierte Corinth zwischen allem Glück und Erfolg stetig und unbarmherzig mit depressiven Anfällen. Seine hochgesteckten Ansprüche an sein Künstlertum und seine Panik vor dem Scheitern verstärkten seine Niedergeschlagenheit. »Eine solch polar-gespannte Existenz muß sich vor sich selbst offenbar werden, sich vor sich selber sichtbar machen, um sich zu erfahren, um den Weg zu markieren, so kurz die unüberschaubare Strecke auch sein mag.«16 Die letzten Niederschriften Corinths in seiner Autobiografie wurden offenbar kaum redigiert und zeugen davon, wie unerbittlich das Leben ihm zusetzte und ihn überdrüssig machte, wie ausgeliefert und verletzbar er war. »Diese eruptiven, unzensierten verbalen Artikulationen seines Innern stehen zu einer Reihe von Selbstbildnissen in voller Kongruenz. Am unmittelbarsten findet diese sezierende Selbstsicht Ausdruck in Zeichnungen, die tagebuchartig datiert sind, aber auch in Aquarellen und Radierungen – es ist nicht der Tod, eher die kleinen Tode vorher, der allmähliche psychische und physische Zerfall. Diese Darstellungen sind gänzlich um den Ausdruck des Gesichtes konzentriert, um Auflösung, Zerfall, Verwüstung, Deformation, und deformiert bis zur Krüppelhaftigkeit kann die Wiedergabe seines Körpers dabei sein.« 17 Auf einer späten Radierung von etwa 1924/25 (Kat. 19) stellt Corinth sich »mit weit aufgerissenen Augen, deformierter Nase und völlig entstellter Mundpartie dar, das Gesicht ›zerhauen‹ mit Schrägschraffuren; der Oberkörper mit der angedeuteten, radierenden Hand ist nur noch verkümmerter Appendix.«18 Corinth blieb sich und seiner Kunst trotz allem immer treu. »Wahrheit war mein Prinzip« – mit diesem Diktum schloss er sein prophylaktisches Vorwort »für die eventuelle Ausgabe« seiner Autobiografie nach seinem Ableben.19 Kat. 19 Lovis Corinth Selbstbildnis [nicht bei Schwarz und Müller] 1924/25?, Kaltnadel, 7,7 × 6,4 cm (Platte), 25,4 × 15,8 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14354
84 Mona Stocker Lovis Corinth unter seinem Pseudonym Heinrich Stiemer SSinne und Triebe Stiemer wollte »soviel wie möglich Fischer sein« – der Kommilitone Weber wollte Stiemers künstlerische Ausbeute sehen. »Der machte ›hum‹ und sog an seinem Stummel. ›Da werden Sie wohl nichts sehen können. Meistens habe ich die Zeit verbracht, indem ich den Charakter der hiesigen Fischer studierte, was ja auch seinen Reiz hat. Mit geschenktem Schnaps werden sie alle recht mitteilsam und zutraulich, und so habe ich vor lauter Studieren und Trinken keine Zeit gehabt, zu malen.‹«1
85 Erste Erfolge in der Genremalerei Im Sommer 1886 besuchte Corinth seinen Künstlerfreund Hans Olde (1855–1917) auf dem Gut Seekamp im Norden von Kiel und unternahm eine Studientour an die Ostseeküste. Im Herbst kehrte er wieder nach Paris zurück, wo er zu dieser Zeit ansässig war.2 Entstanden ist bei diesem Aufenthalt in Ellerbek3 bei Kiel ein Gemälde, das ganz klassisch einem ersten spontanen Gefangensein von einer besonderen Atmosphäre zu verdanken ist, dann als schnelle Ölskizze umgesetzt wurde und schließlich in einem fein ausgearbeiteten Gemälde gipfelte. Faszination für das einfache Leben In einem Skizzenbuch, das er auf der Reise in der Kieler Gegend mit sich geführt haben muss, hielt Corinth einen Eindruck in einem Fischerhaus fest (Kat. 62). Die Bleistiftzeichnung – zu unbestimmter Zeit aus dem Heftzusammenhang gelöst – zeigt eine junge, stehende Frau in langem Gewand, die sich leicht nach vorne beugt und mit beiden Armen zu einem Trog greift. Ihr gegenüber steht ein kleines Mädchen. Beide sind ganz aufeinander bezogen in ihrer Tätigkeit, die Fischernetze mit Öl zu imprägnieren. Der schmale Raum, dessen seitliche Begrenzungen nicht sichtbar sind, endet bildparallel mit einer Wand, in der rechts eine Tür angedeutet ist. Links oben lokalisieren die fahrigen, schnellen Schraffenlinien den Lichteinfall. Die nur wenig größere Ölstudie dürfte Corinth bald nach der Zeichnung gemalt haben (Abb. 1). Selbst anhand der historischen Schwarz-WeißFotografie lässt sich gut der breit aufgetragene Pinselstrich ausmachen. Die Studie folgt im großen Ganzen der Zeichnungsvorlage, jedoch erweitert Corinth den Bildraum nach rechts, wodurch die junge Frau zur Mittelfigur aufgewertet wird. Die gemeinsam mit dem Mädchen verrichtete alltägliche Tätigkeit bestimmt weiter das Geschehen. Das einfallende Licht hebt die nackten Arme und Gesichter sowie das helle Gewand des Kindes hervor. Die nun ausgearbeitete Tür – geschnitztes Blatt mit verziertem Rahmen – entspricht den lokaltypischen Interieurs, wie sie Corinth immer wieder in seinen Skizzenbüchern festhielt (Kat. 63).4 1 Corinth 1918, S. 39. 2 Ausst.-Kat Leipzig/ Regensburg 2008/09, S. 25. 3 Lt. BC 42, 1992, in »Ellenbeck bei Kiel« gemalt, vermutlich aber im einstigen Fischerdorf »Ellerbek«. 4 Vgl. Best.-Kat. Regensburg 2025, u. a. Skizzenbuch V. Kat. 62 Lovis Corinth Skizze zu »Im Fischerhaus« wohl 1886, Bleistift, 39,3 × 31,0 cm (Darstellung), 47,6 × 31,4 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 19177 recto Abb. 1 Lovis Corinth Im Fischerhaus (Studie) (BC 41) 1886, Öl auf Pappe, 46 × 40 cm Verbleib unbekannt, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Photothek
86 Schwankende Erfolgsskala Die Ölstudie zu Im Fischerhaus wurde 1886 im Pariser Salon gezeigt,5 ein Erfolg für Corinth. Eine schelmenhafte Anekdote, die Charlotte Berend-Corinth überlieferte, ironisiert das Auf und Ab von Anerkennung und Ablehnung. Der Künstlerverein »Nasser Lappen«, bei dem er in Berlin Aktzeichenkurse besuchte, »veranlasste Corinth [...] zur Übersendung eines Bildes in die Ausstellung des ›Vereins Berliner Künstler‹«. Corinth sandte das Studienbild zum Fischerhaus ein, »das aber [...] eine ungünstige Kritik fand. Die Vereinsbrüder vom ›Nassen Lappen‹ ärgerten sich sehr über diese unfreundliche Kritik und wollten nun ihrerseits den Verein verulken. Sie dachten sich, dass wenn der Zettel ›verkauft‹ unter dem Bild stünde, der Verein der Berliner Künstler sehr unangenehm überrascht davon wäre. Deshalb wurde das Bild an einem der Vereinsabende des ›Nassen Lappen‹ mit Zustimmung von Corinth versteigert, und zwar für eine halbe Tonne Bier, und kam in den Besitz des Prof. Mühlenbruch München.«6 Eros im Fischerhaus Aspekte einer solchen draufgängerisch-vergnüglichen Pose spiegeln sich auch in der endgültigen Ausführung des Gemäldes Im Fischerhaus (Kat. 64). Dieses hat Corinth sowohl hinsichtlich des Formats als auch hinsichtlich des Bildinhalts gegenüber der Ölstudie deutlich ausgeweitet. Aus der reinen Arbeitsszene wurde eine Konstellation mit erotischem Unterton, denn nun ist links ein junger Mann ins Bild getreten, der der jungen Frau unter seiner Hutkappe heraus und über seine lässig im Mundwinkel hängende Zigarette hinweg einen eindeutigen Blick zuwirft. Sie gibt sich zwar unbeteiligt, ist aber doch berührt, wie ihr Gesichtsausdruck signalisiert. Der Mann steht breitbeinig, seine helle Überhose klafft in der Körpermitte auf. Die Holzstange, über die die Fäden der Fischernetze laufen, ist jetzt nicht mehr nur Utensil, sondern unmissverständliche Anspielung. Das Licht fällt oben links durch das Fenster ein. Die milde, warme Lichtfarbe bettet Kat. 64 Lovis Corinth Im Fischerhaus (BC 42) 1886, Öl auf Leinwand, 90 × 116 cm Privatbesitz (Provenienz in Abklärung) Kat. 63 Lovis Corinth Skizzenbuch V (B 58 v) um 1877, Bleistift, 10,0 × 14,6 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 19086, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland
87 Erste Erfolge in der Genremalerei die blau gewandeten Figuren harmonisch in den Rotton der Stube ein. Einzelne Akzentfarben wie das dunkle Grün im Hocker unter dem Trog und dem Henkeltopf darüber sorgen für die farbliche Abrundung. Fischerkneipe Corinth war durch seine eigene Herkunft dem einfachen Landleben zugetan. So hatte er schon 1879 während seiner Königsberger Studienzeit einen Sommer in dem Fischerdorf Buxtehude auf der Frischen Nehrung verbracht (Kat. 65).7 »Lebensgierig war Corinth, und diese Lebensgier war in den kühlen Gipssälen der Akademie nicht zu befriedigen. Er zog mit einem anderen Maler hinaus nach der Nehrung und lebte in einem Fischerdorf das starke Dasein der Seebewohner. Aber nicht die unendliche melancholische Fläche des Meeres war es, die er erspähen wollte, nicht die Türmungen der Wolken am immer veränderten Himmel dieses Striches, sondern die Menschen. [...] Ihr Wesen war dem seinen nicht so fern. Die Verständigung im Platt war einfach, ihr Herz durch mächtige Lagen Schnäpse bald gewonnen. Einen ganzen Sommer brachte er bei ihnen zu. Die Ausbeute war, nach Studienblättern gerechnet, nicht eben groß, doch an Kenntnis vom Wesen der Menschen.«8 In seinen Legenden aus dem Künstlerleben erzählte Corinth launig von einem spannungsvoll erwarteten Ereignis, dem Anliefern eines Stiers vom Festland über die Nehrung. Es wurden »auf seine Kosten allerhand Witze gerissen. Namentlich führten die beiden Maler, Wilhelm Hempel und Heinrich Stiemer, sehr zweideutig die Beschäftigung an, die er hier vollbringen sollte, was ein Quieken und Johlen bei den Frauen und Mädchen veranlaßte.« Ansonsten ging man »den gewohnten Beschäftigungen nach. Die beiden Maler spielten auf zwei Schnäpse eine Partie Sechsundsechzig, der Krugwirt Dahms erzählte von den Abenteuern des Transportes.«9 Corinths Zeichnung Fischerkneipe auf der Nehrung (Kat. 66) wirkt dazu laut Rohde wie »eine nicht zu übertreffende Illustration«.10 5 BC 41. 6 Charlotte BerendCorinth, Vorarbeiten für das Werkverzeichnis der Gemälde von Lovis Corinth (vgl. Berend-Corinth 1958/ 1992), Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Photothek, Bildarchiv Bruckmann, WVZ Corinth (BC 41). Vgl. zum Verein »Nasser Lappen« Schnackenburg 1977, S. 161. 7 Vgl. Best.-Kat. Regensburg 2025, Skizzenbuch II. 8 Kuhn 1925, S. 30 f., Abb. 6, S. 27. 9 Corinth 1918, S. 32–49. 10 Rohde 1941, S. 81 und Abb. 7. Kat. 65 Lovis Corinth Skizzenbuch II (B 15 r) um 1879, Bleistift, 18,8 × 27,4 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 18976 Kat. 66 Lovis Corinth Fischerkneipe auf der Nehrung 1879, Pinsel und Feder in brauner Tusche, laviert über Bleistift, 20,0 × 26,7 cm Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14666
116 Charlotte Berend-Corinth D Der Geiger Andreas Weißgerber – Porträtmarathon »Andreas Weißgerber spielte eineinhalb Stunden lang ein Riesenprogramm herunter, während Corinth ihn malte. Da fragte ihn Corinth: ›Sind Sie müde?‹ – Weißgerber sieht, daß der Meister mitten in der Arbeit ist, sagt: ›Nein‹ und spielt weiter. Nach dreiviertel Stunden meint Corinth: ›Ich höre gleich auf.‹ Nach einer weiteren halben Stunde sagt Weißgerber: ›Ich kann nicht mehr, wir wollen eine Pause machen.‹ Corinth: ›Nur eine kleine Weile noch, dann machen wir eine Pause.‹ Noch eine halbe Stunde vergeht, da setzt sich Weißgerber erschöpft auf einen Stuhl. Ohne etwas zu sagen, holt Corinth eine neue Leinwand und malt in zwanzig Minuten den ›sitzenden Geiger Weißgerber‹.«1 Mona Stocker
117 Bildnisse des Menschen Musikalisches Wunderkind Andreas Weißgerber war 19 Jahre alt, als Corinth ihn in fünf Werken porträtierte. In Volos in Griechenland geboren – seine Familie stammte aus Czernowitz (heute Tscherniwzi, Ukraine) – hatte er mit vier Jahren begonnen, Geige zu spielen, mit fünf Jahren debütierte er und wurde schnell ein berühmtes Wunderkind. Nach einer ersten Phase an der Akademie in Athen vollendete er seine Ausbildung in Budapest, Wien und Berlin, wohin er Ende 1909 kam. Nachdem die beiden Kunstfreunde Erich Goeritz und David Leder (Kat. 90) Weißgerbers Talent bei einem Konzert in Chemnitz erlebt hatten, förderten sie ihn. Die Stradivari, auf der Weißgerber spielte, gehörte Goeritz. Leder, selbst ein guter Pianist, unterstützte seine musikalische Ausbildung.2 1 Berend-Corinth 1992, Briefe und Zitate, Nr. 20, S. 224 f. 2 Eberle 1996, S. 980 f.; auch Max Liebermann und Max Slevogt malten ganzfigurige Porträts Weißgerbers als Geiger. Kat. 91 Lovis Corinth Porträt Andreas Weißgerber (stehend) (BC 778) 1919, Öl auf Leinwand, 209 × 118 cm Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 3564, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland
118 Auftragsbild 1919 malte Corinth den Geiger Andreas Weißgerber im Auftrag von Goeritz (Kat. 91). Das lebensgroße, ganzfigurige Bild entstand in Corinths Atelier in der Klopstockstraße.3 Es zeigt den Geiger in einem Rollenporträt als den legendären Musiker, wie bei einem Auftritt in schwarzem Anzug über weißem Hemd und cremefarbener Bauchbinde. Weißgerber steht und spielt sein Instrument. Das Ambiente gibt Requisiten in Corinths Atelier wieder: »Teppich dunkelbraun mit gelben Streifen; der Vorhang im Hintergrund bräunlichgelb«.4 Der Vorhang scheint Weißgerber etwas einzuengen, wie auch die beiden aufgehängten Bilder auf der anderen Seite. Er steht unbeweglich und konzentriert sich auf sein Spiel, den Kopf gesenkt. Die Betonung liegt auf den großen Händen mit Geige und Bogen. Spontane Inspiration Wie verblüffend, dass Weißgerber auf dem zweiten Porträt, für das Corinth unmittelbar nach der langwierigen ersten Sitzung schnell eine weitere Leinwand heranzog, in völlig anderer Verfassung erscheint (Kat. 92). Hier spricht die Musikalität und Sensibilität Weißgerbers beredt aus seinen Zügen. Trotz der Spuren von Erschöpfung auf seinem blassen Gesicht wirkt er beseelt und gelöst. Die Drehbewegung, die man in seinem Oberkörper ahnt, gibt dem gesamten Gemälde Schwung und Lebendigkeit. Mensch und Instrument sind in Einklang, ohne dass Weißgerber spielt. Der lebhafte Fond in seinen changierenden Brauntönen wird zum Resonanzraum. Herausforderung Porträt Corinth wusste um die Herausforderungen, ein gelungenes Porträt zu schaffen, er wusste, es »werden nur solche Porträts von künstlerischem Wert sein, welche dem Maler ›liegen‹«.5 Seine Erfahrung und sein Können führten wohl dazu, dass er sich Weißgerber in der stehenden Version zwar kennenlernend näherte, aber erst danach die Freiheit besaß, dessen Wesen und Eigenart in der sitzenden Version so meisterlich zu treffen. Noch im selben Jahr 1919 fertigte Corinth drei Radierungen mit dem Porträt Weißgerbers. In zweien wiederholte er gemäß seiner gängigen Praxis die Gemäldeversionen. In der Wiederaufnahme des stehenden Geigers verzichtete er allerdings, von spärlichen Raumandeutungen abgesehen, auf jegliches Ambiente im Hintergrund (Kat. 93). Züngeln und vibrieren bei der Umsetzung des Halbporträts zwar die kraftvollen Kaltnadelstriche, so erreicht die Grafik doch nicht mehr die Energie und die Harmonie des glücklichen Moments der Gemäldefassung (Kat. 94). In der dritten Version scheint Corinth mit der Kniefigur nach einer Synthese zu streben, wohl in der Hoffnung, durch den engeren Kat. 92 Lovis Corinth Der Violinist Andreas Weißgerber (BC 776) 1919, Öl auf Leinwand, 95 × 75,2 cm Sammlung des Musée national d’archéologie, d’historie et d’art Luxembourg (MNAHA), Inv.-Nr. 1941-100/261 Kat. 93 ← Lovis Corinth Bildnis Andreas Weißgerber (3. Fassung) (Schwarz 378) 1919, Kaltnadel, 25,7 × 13,9 cm (Platte), 31,3 × 22,2 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 3882, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland
119 Bildnisse des Menschen Ausschnitt und die leichte Torsion des Musikers das Klanggeschehen besser zu treffen (Kat. 95). Letzte Konzerte Weißgerbers in Berlin sind um 1930 nachweisbar. Mitte der 1930er-Jahre emigrierte er nach Palästina, wo er Mitglied im New Palestine Symphony Orchestra, dem späteren Israel Philharmonic Orchestra, wurde. Er starb 1941 in Tel Aviv.6 Auch für seinen Mäzen David Leder nahm die Musik in der Zeit des Nationalsozialismus eine lebenswichtige Rolle ein. »Immer noch spielte er«, wie sein Sohn Stephan Hermlin schrieb, »in der Morgendämmerung lange vor dem Frühstück und vor der Ankunft der Sekretärin zwei Stunden aus dem ›Wohltemperierten Klavier‹. Sein Klavierspiel war so wundervoll wie immer; er spielte noch mehr als früher in dieser Zeit, die er mit Verachtung ertrug. Die Musik hatte ihm immer das Leben ermöglicht, jetzt verbrachte er mit ihr einen großen Teil des Tages.«7 3 BC 778. 4 BC 778. 5 Corinth 1920, S. 136 f. 6 Eberle 1996, S. 980 f. 7 Eberle 1996, S. 1081. Kat. 94 Lovis Corinth Bildnis Andreas Weißgerber (1. Fassung) (Schwarz 376) 1919, Kaltnadel, 33,9 × 22,8 cm (Platte), 44,2 × 31,5 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 19259 Kat. 95 ↓ Lovis Corinth Bildnis Andreas Weißgerber (2. Fassung) (Schwarz 377) 1919, Kaltnadel, 29,8 × 21,9 cm (Platte), 37,8 × 28,2 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 19260
142 A Wilhelmine Corinth Seit 1919 dachte die Familie an »ein eigenes Haus, wo Corinth ungestört von morgens bis abends malen konnte. Egal, ob es regnete, schneite oder die Sonne schien. Die Überlegung hatte noch einen anderen wesentlichen Vorteil: man müßte dann nicht mehr ständig diese entsetzlich schweren Leinwände samt Malkasten und Staffelei herumschleppen. Alles wäre so einfach für uns alle, eben weniger anstrengend. Jede Stimmung der Natur wäre nur für ihn da.«1 Auf dem Gipfel – Familienglück am Walchensee Mona Stocker
143 Landschaften am Wasser Eine Marke der Landschaftsmalerei Der Walchensee entfesselte Corinths Schaffenslust. Befördert hat dies seine Frau Charlotte, die im verordneten Alleingang – Corinth wollte davon nicht behelligt werden – ein Häuschen am Hang oberhalb des Sees in Urfeld errichten ließ. Dieses Domizil wurde zu einem regelmäßig aufgesuchten Refugium der Familie Corinth, die dort – fernab der hektischen Großstadt Berlin – sorglos und heiter ihre Ferien im Sommer und die Tage um Weihnachten und den Jahreswechsel verbrachte. Bis heute steht der Walchensee geradezu synonym für Corinths fulminante späte Landschaftsmalerei. Schon zu Lebzeiten »konnte er die Walchenseebilder gar nicht so schnell malen, wie sie ihm aus dem Atelier getragen wurden. Sie waren vorbestellt, noch ehe er sie in Arbeit hatte.«2 Der Walchensee wurde eine Marke. Rückzugsort der Familie Neben der Schönheit der Natur, der Abgeschiedenheit und der Ruhe genoss man das ungestörte gesellige und traute Familienleben. Den sicherlich unmittelbarsten Niederschlag fand dieses gelebte Familienglück im Regensburger Skizzenbuch III, dem sogenannten WalchenseeSkizzenbuch.3 Das Büchlein selbst ist ein Weihnachtsgeschenk der damals 13-jährigen Tochter Wilhelmine gewesen. Sie hatte das Heft mit leeren Seiten in der Schule für den Vater gebastelt. Seine Introvertiertheit und Egomanie kennend, hatte sie Sorge, er würde es vielleicht gar nicht zur Kenntnis nehmen und beiseitelegen. Aber etwas anderes geschah: Corinth füllte es Seite für Seite mit den schönsten Zeichnungen.4 Gleichsam im Gegenzug vermachte Corinth das gestaltete Heft nun seiner Tochter, indem er auf dem Spiegel vorne notierte: »Weihnachten 1922 von Wilhelmine. Skizzen in ›Urfeld‹, Walchensee, Januar 1923.« Und gleich auf der ersten Seite zeichnete er sie: Die lesende Wilhelmine mit Katzen (Kat. 118), wie er in brauner Tinte hinzufügte. Das zarte Gesichtchen entspannt, ist die Tochter ganz der Lektüre hingegeben. Sie vergräbt sich in die Kissen zusammen mit den Katzen, die um sie herum lebten. Zum Haushalt zählten auch der Hund Moro, das Pferdchen Strupp und die Ziege Mecki (Kat.119), die alle im Skizzenbuch ihren Platz gefunden haben. Bisweilen sind sie bereits von den vielen, auch früheren, grafischen Folgen und Blättern Corinths bekannt (Kat. 120 und 121). 1 Corinth 1990, S. 33. 2 Corinth 1990, S. 210. 3 Vgl. Best.-Kat. Regensburg 2025, Skizzenbuch III. 4 Corinth 1990, S. 76 f. 5 Corinth 1990, S. 75. Kat. 118 Lovis Corinth Skizzenbuch III (Walchensee-Skizzenbuch, Spiegel vorn und B 1 r) 1922/23, Kreide in Schwarz, 17,8 × 27,0 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 17450 Kat. 119 Lovis Corinth Skizzenbuch III (WalchenseeSkizzenbuch, B 6 r) 1922/23, Kreide in Schwarz, 17,8 × 27,0 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 17455
144 Kat. 120 Lovis Corinth Katze auf Baumstrunk Blatt 8 der Mappe: Am Walchensee (Schwarz 432/VIII) 1920, Kaltnadel, 24,6 × 20,1 cm (Platte), 39,9 × 28,3 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14833 Kat. 121 Lovis Corinth Der Ziegenbock Blatt 7 der Mappe: Am Walchensee (Schwarz 432/VII) 1920, Kaltnadel, 24,5 × 18,4 cm (Platte), 39,9 × 28,1 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14832 Kat. 123 Lovis Corinth See-Ufer (Walchensee) Blatt 1 der Mappe: Vorfrühling im Gebirge (Müller 568) 1922, Kreidelithografie, 32,0 × 42,8 cm (Stein), 45,8 × 59,4 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 11106 Kat. 122 → Lovis Corinth Walchensee im Winter (BC 897) 1923, Öl auf Leinwand, 70 × 90 cm Frankfurt am Main, Städel Museum, Inv.‑Nr. SG 1132 ↓
145 Landschaften am Wasser
146 Das »Walchensee-Skizzenbuch« Die Skizzen leben vom Charme des Beiläufigen. Die Dargestellten scheinen nicht bemerkt zu haben, dass sie porträtiert wurden. Corinths Zeichenkunst offenbart sich in ihrer höchsten Vollendung, frei und sicher. Der Monochromie der Kreide gewinnt er nuancierte Farbwerte ab, die die Atmosphäre des Augenblicks heraufbeschwören. Es sind keine Vorstudien wie in den übrigen Regensburger Skizzenbüchern, sondern für sich stehende Zeichnungen. Für Wilhelmine gehörten die Winter in Oberbayern mit Schnee und Schlittenfahren zu den schönsten Kindheitserinnerungen, vor allem »Weihnachten am Walchensee war etwas ganz Besonderes. [...] Schnee und Berge, weißgezuckerte Bäume«.5 Das Gemälde Walchensee im Winter (Kat. 122) versetzt einen in jene Winterferien, in denen Corinth seine spontanen Eindrücke in dem Skizzenbuch sammelte. Es entstand am Neujahrstag 1923.6 Zwei Stämme schieben sich auf der rechten Seite über die Hügel hinweg schräg in den verhangenen Himmel, nur wenige welke, gelbe Blätter bringen etwas warme Farbe zwischen die kahlen Äste. Schneegestöber verschleiert die andere Uferseite hinter dem eisblau schimmernden, wohl zugefrorenen See. Die Fischerhütten lagern geduckt im bläulichen Schimmer. Über allem liegt eine betörende Stille. Selbst in reiner Schwarz-Weiß-Kunst gelang es Corinth, solche Winterstimmungen einzufangen (Kat. 123). Spiel der Jahres- und Tageszeiten Gelegentlich kamen auch Gäste an den Walchensee, Freunde der Familie, wie der Maler Leo Michelson. In besagtem Winter ist er mit den Kindern beim Kartenspielen zu sehen (Kat. 124), wie man generell gerne zum geselligen Zeitvertreib zusammenkam (Kat. 125). Auch im Sommer fand der Freund sich ein. Das Bild Walchensee (auf der Terrasse) malte Corinth vom Balkon aus. Der Hinterkopf seines ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenkenden Sohnes glänzt ihm mit einem Sonnenreflex auf dem Haar entgegen, während Michelson nach oben Blickkontakt aufnimmt (Kat. 126).7 Die beiden spielen wohl am Terrassentisch. Durch die vertikalen Baumstämme und die horizontalen Geländer geht der Blick weiter in die Tiefe, über den Garten mit dem blau leuchtenden Springbrunnenbecken hinweg über die fahlen, von der Sommerhitze schon ausgebleichten Wiesen auf den stahlblau daliegenden See. Bildrausch Corinth malte »von frühmorgens bis zum späten Abend, wenn er sich nicht mit Ölbildern oder Aquarellen beschäftigte, dann arbeitete er an Radierungen oder er zeichnete«, wie sich Wilhelmine erinnerte. Er kam nur gelegentlich ins Haus, um die Wirkung der Werke ohne Sonnenlicht zu prüfen.8 Obwohl er sich beinahe ausschließlich auf dem Gelände aufhielt, war der Kat. 124 Lovis Corinth Skizzenbuch III (WalchenseeSkizzenbuch, B 9 r) 1922/23, Kreide in Schwarz, 17,8 × 27,0 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 17456 6 Vermerk: »1. Januar 1923«; Charlotte Berend-Corinth, Vorarbeiten für das Werkverzeichnis der Gemälde von Lovis Corinth (vgl. Berend-Corinth 1958/ 1992), Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Photothek, Bildarchiv Bruckmann, WVZ Corinth (BC 897). 7 Ausst.-Kat. Regensburg/Bremen 1986, Kat. 59, S. 167. 8 Corinth 1990, S. 54.
147 Landschaften am Wasser Reichtum der Motive schier unerschöpflich. Variiert durch die Jahres- und Tageszeiten sowie wechselnde Witterungen erschlossen sich immer wieder neue überraschende Ansichten: die liebliche Stimmung des ersten Oktoberschnees (Kat. 128), die sommerliche Laubfrische vor dem Blau des Sees mit dem Jochberg im Hintergrund (Kat. 130) oder die nächtliche Stille bei Mondlicht, in der See, Berge und Himmel zur Farbsymphonie verschmelzen (Kat. 132). Und natürlich hat der See als Kulisse, vor der sich das glückliche Familienleben vollzog, auch im Walchensee-Skizzenbuch seinen Platz gefunden – unter den Porträts der »Corinther«, wie sie sich selbst nannten (Kat. 129). Die Motive der Umgebung rauschten nun fließend durch die Gattungen – Malerei, Zeichnung und Druckgrafik –, eröffnete doch jedes Medium neue Facetten des bisher Ungesehenen (Kat. 127, 131 und 133). Kat. 125 Lovis Corinth Familie am Tisch (Schwarz 332) 1918, Kaltnadel, 17,8 × 24,6 cm (Platte), 26,5 × 33,3 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 19257
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