Leseprobe

35 Lovis Corinth – Person und Herkunft Selbstbildnisse »›Ich‹, 62 Jahre« – so präsentiert Lovis Corinth sich selbst in dem kleinen Gemälde aus dem Jahr 1920 (Kat. 14). Das beengte Format steigert die Präsenz, die Persönlichkeit sprengt beinahe den engen Rahmen. Mit seinem Blick konfrontiert Corinth sowohl sich selbst als auch die Betrachtenden. In der typischen, heftigen Handschrift, die die Pinselschläge von rechts oben nach links unten wegführt, gehen das nahezu frontal wiedergegebene Gesicht und der Hintergrund in einheitlicher Textur auf. Die Töne sind sorgsam zwischen Weiß und Schwarz, Braun und Grau abgestimmt. Das braunrötliche Haar findet Korrespondenz in einem vertikalen Streifen links, wohl dem Rahmen eines Spiegels. Die blaugrauen Augen fixieren ihr Gegenüber aus unmittelbarer Nähe und zugleich kritisch distanziert. Die dunklen Verschattungen im Hintergrund sind nicht nur als Spiegelungen zu bewerten. Ebenso wie die sich von links gnadenlos in das Bild schiebende schwarze Leere verweben sie die seit dem Schlaganfall von 1911 gefühlten Abgründe der Todesbedrohung in die Malerei. Ein fragiler Augenblick ist eingefangen, als könne das Bildnis ebenso wieder in bedeutungslose Einzelstriche zerfallen. Mag man die Gegenüberstellung der eigenen Person mit dem Tod in Corinths Bildern der ersten Schaffensphasen als Koketterie und Wettstreit mit berühmten künstlerischen Vorbildern einordnen, so wird der Tod von 1911 an ein inneres, unvermeidbares Thema. In der Mappe Totentanz (1920–1922) tritt der personifizierte Tod als permanenter Schatten des Künstlers auf, als sein zweites Selbst (Kat. 15). Die offensiv getragene Armbanduhr läuft unerbittlich ab, selbst wenn das unbeirrbare Künstlerauge bis dahin alles Wesentliche festhält. Corinth hat die ostentative Herausforderung der Endlichkeit als künstlerischen Impuls angenommen. »Mit Schmerz und dem Wissen um die eigene Todesnähe ›protokolliert‹ Corinth sich in Gegenwart und Zukunft zugleich.«2 Als bestünde kein Bild von ihm auf Dauer, als böte keine Selbstansicht Verlässlichkeit, porträtierte Corinth sich in jedweder künstlerischen Technik, seit 1900 sogar regelmäßig. »Wer sich immer wieder selbstkritisch prüft, hält sich selbst den Spiegel vor; niemals bei einem Maler haben daher die Selbstbildnisse eine derartige 1 Corinth 1920, S. 136. 2 Stilijanov-Nedo 1993, S. 62. Kat. 14 Lovis Corinth Selbstbildnis (BC 805) 1920, Öl auf Holz, 59 × 50 cm Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 6107, Dauerleihgabe der Bundesrepublik Deutschland

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