Leseprobe

39 Lovis Corinth – Person und Herkunft Ansprüchen gehorchte wie die Selbstbildnisse, hat er schnell professionalisiert. Corinths Lebensgeschichte wurde ebenso veröffentlicht wie Anekdoten aus seinem lebhaften Künstlerdasein10 und ein Lehrbuch zum Malen und Zeichnen.11 Bisweilen wird Corinth gar als Doppelbegabung eingestuft. Auch die Schriften erfüllten einen doppelten Zweck. Sie ließen ein autofiktional untermauertes, ruhmreiches, wenngleich bisweilen ironisch gebrochenes Künstler-Selbstbild erstehen und erschlossen zugleich eine zusätzliche Einnahmequelle. Ein erheblicher Teil des Nachruhms Corinths ist den publizistischen Aktivitäten seiner Familie zu verdanken, die damit seinen Namen und sein Werk präsent hielt und dafür sorgte, dass seine Bilder regelmäßig in großen Einzelausstellungen zu sehen waren. Seine Frau Charlotte Berend-Corinth, selbst hochtalentierte Künstlerin (Kat. 18), widmete ihre Lebenszeit als Witwe der zeitaufwendigen, akribischen Erstellung eines Werkverzeichnisses der Gemälde von Lovis Corinth, das 1958 mit 983 Einträgen erschien.12 Außerdem legte sie die biografische Lesart fest und begründete die Deutungshoheit durch die Familie, indem sie die Selbstbiografie Corinths edierte und zwei eigene Berichte über ihr Leben mit ihm veröffentlichte.13 Den letzten Schliff besorgte der Sohn Thomas Corinth, der die in der Familie gesammelten und gehüteten Dokumente zu Leben und Schaffen des Vaters 1979 in einem großangelegten, detailreichen Band herausgab.14 Einzig Wilhelmine Corinth, die jüngere Tochter, versuchte ansatzweise und leise, der Familienbürde zu entkommen, und wagte geringfügige Infragestellungen des Künstler- und Meisterkultes, der ihren Vater umrankte.15 Verlorenheit im Selbstanspruch Die Schwere des Lebens attackierte Corinth zwischen allem Glück und Erfolg stetig und unbarmherzig mit depressiven Anfällen. Seine hochgesteckten Ansprüche an sein Künstlertum und seine Panik vor dem Scheitern verstärkten seine Niedergeschlagenheit. »Eine solch polar-gespannte Existenz muß sich vor sich selbst offenbar werden, sich vor sich selber sichtbar machen, um sich zu erfahren, um den Weg zu markieren, so kurz die unüberschaubare Strecke auch sein mag.«16 Die letzten Niederschriften Corinths in seiner Autobiografie wurden offenbar kaum redigiert und zeugen davon, wie unerbittlich das Leben ihm zusetzte und ihn überdrüssig machte, wie ausgeliefert und verletzbar er war. »Diese eruptiven, unzensierten verbalen Artikulationen seines Innern stehen zu einer Reihe von Selbstbildnissen in voller Kongruenz. Am unmittelbarsten findet diese sezierende Selbstsicht Ausdruck in Zeichnungen, die tagebuchartig datiert sind, aber auch in Aquarellen und Radierungen – es ist nicht der Tod, eher die kleinen Tode vorher, der allmähliche psychische und physische Zerfall. Diese Darstellungen sind gänzlich um den Ausdruck des Gesichtes konzentriert, um Auflösung, Zerfall, Verwüstung, Deformation, und deformiert bis zur Krüppelhaftigkeit kann die Wiedergabe seines Körpers dabei sein.« 17 Auf einer späten Radierung von etwa 1924/25 (Kat. 19) stellt Corinth sich »mit weit aufgerissenen Augen, deformierter Nase und völlig entstellter Mundpartie dar, das Gesicht ›zerhauen‹ mit Schrägschraffuren; der Oberkörper mit der angedeuteten, radierenden Hand ist nur noch verkümmerter Appendix.«18 Corinth blieb sich und seiner Kunst trotz allem immer treu. »Wahrheit war mein Prinzip« – mit diesem Diktum schloss er sein prophylaktisches Vorwort »für die eventuelle Ausgabe« seiner Autobiografie nach seinem Ableben.19 Kat. 19 Lovis Corinth Selbstbildnis [nicht bei Schwarz und Müller] 1924/25?, Kaltnadel, 7,7 × 6,4 cm (Platte), 25,4 × 15,8 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14354

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