Leseprobe

146 Das »Walchensee-Skizzenbuch« Die Skizzen leben vom Charme des Beiläufigen. Die Dargestellten scheinen nicht bemerkt zu haben, dass sie porträtiert wurden. Corinths Zeichenkunst offenbart sich in ihrer höchsten Vollendung, frei und sicher. Der Monochromie der Kreide gewinnt er nuancierte Farbwerte ab, die die Atmosphäre des Augenblicks heraufbeschwören. Es sind keine Vorstudien wie in den übrigen Regensburger Skizzenbüchern, sondern für sich stehende Zeichnungen. Für Wilhelmine gehörten die Winter in Oberbayern mit Schnee und Schlittenfahren zu den schönsten Kindheitserinnerungen, vor allem »Weihnachten am Walchensee war etwas ganz Besonderes. [...] Schnee und Berge, weißgezuckerte Bäume«.5 Das Gemälde Walchensee im Winter (Kat. 122) versetzt einen in jene Winterferien, in denen Corinth seine spontanen Eindrücke in dem Skizzenbuch sammelte. Es entstand am Neujahrstag 1923.6 Zwei Stämme schieben sich auf der rechten Seite über die Hügel hinweg schräg in den verhangenen Himmel, nur wenige welke, gelbe Blätter bringen etwas warme Farbe zwischen die kahlen Äste. Schneegestöber verschleiert die andere Uferseite hinter dem eisblau schimmernden, wohl zugefrorenen See. Die Fischerhütten lagern geduckt im bläulichen Schimmer. Über allem liegt eine betörende Stille. Selbst in reiner Schwarz-Weiß-Kunst gelang es Corinth, solche Winterstimmungen einzufangen (Kat. 123). Spiel der Jahres- und Tageszeiten Gelegentlich kamen auch Gäste an den Walchensee, Freunde der Familie, wie der Maler Leo Michelson. In besagtem Winter ist er mit den Kindern beim Kartenspielen zu sehen (Kat. 124), wie man generell gerne zum geselligen Zeitvertreib zusammenkam (Kat. 125). Auch im Sommer fand der Freund sich ein. Das Bild Walchensee (auf der Terrasse) malte Corinth vom Balkon aus. Der Hinterkopf seines ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenkenden Sohnes glänzt ihm mit einem Sonnenreflex auf dem Haar entgegen, während Michelson nach oben Blickkontakt aufnimmt (Kat. 126).7 Die beiden spielen wohl am Terrassentisch. Durch die vertikalen Baumstämme und die horizontalen Geländer geht der Blick weiter in die Tiefe, über den Garten mit dem blau leuchtenden Springbrunnenbecken hinweg über die fahlen, von der Sommerhitze schon ausgebleichten Wiesen auf den stahlblau daliegenden See. Bildrausch Corinth malte »von frühmorgens bis zum späten Abend, wenn er sich nicht mit Ölbildern oder Aquarellen beschäftigte, dann arbeitete er an Radierungen oder er zeichnete«, wie sich Wilhelmine erinnerte. Er kam nur gelegentlich ins Haus, um die Wirkung der Werke ohne Sonnenlicht zu prüfen.8 Obwohl er sich beinahe ausschließlich auf dem Gelände aufhielt, war der Kat. 124 Lovis Corinth Skizzenbuch III (WalchenseeSkizzenbuch, B 9 r) 1922/23, Kreide in Schwarz, 17,8 × 27,0 cm (Blatt) Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 17456 6 Vermerk: »1. Januar 1923«; Charlotte Berend-Corinth, Vorarbeiten für das Werkverzeichnis der Gemälde von Lovis Corinth (vgl. Berend-Corinth 1958/ 1992), Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Photothek, Bildarchiv Bruckmann, WVZ Corinth (BC 897). 7 Ausst.-Kat. Regensburg/Bremen 1986, Kat. 59, S. 167. 8 Corinth 1990, S. 54.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1