155 Kunsttechnologische Untersuchungen Einführung Das Sammlungskonvolut zu Lovis Corinth, welches zwölf Gemälde, eine große Zahl an (Druck-)Grafiken sowie repräsentative Skizzenbücher umfasst, ermöglicht es, sich der Werkgenese des Künstlers – seiner Maltechnik und künstlerischen Arbeitsweise über das gesamte Schaffen – anzunähern. Kunsthistorisch betrachtet ist der »realistische« deutsche Impressionist nur schwer einzuordnen. So bestand längere Zeit die Tendenz, dem Spätwerk Corinths eine neu erfundene Ausdrucksform zuzuschreiben, die aus den Folgen des Schlaganfalls im Jahr 1911 resultiert sei. Diese Auffassung machte sich die nationalsozialistische Kulturpropaganda zunutze.2 Allein im Jahr 1937 wurden annähernd 300 Werke von Lovis Corinth aus öffentlichen Sammlungen als »entartete Kunst« beschlagnahmt.3 Den Behauptungen, dass seine künstlerische Phase nach 1911 durch den Schlaganfall maßgeblich beeinträchtigt oder beeinflusst sei, widersprechen die späteren Aufzeichnungen seiner Frau, Charlotte Berend-Corinth (1880–1967). Sie beschrieb, dass er zwar eine etwas schwerfällige linke Hand und wenn er ermüdet war ein typisches Nachschleifen des linken Fußes zurückbehielt, aber »bis zum letzten Bilde (das riesengroße »Ecce Homo« von Ostern 1925) malte er im Stehen und hielt in der linken Hand die Palette. Diese linke Hand war unbeholfen in kleinen Bewegungen, wie Tuben aufdrehen [...] Nur ab und zu [bedurfte er] ein wenig unserer Hilfe für diese kleinen Verrichtungen.«4 In Corinths Spätwerk spielen vor allem Landschaften, allen voran der Walchensee, und üppige Blumenstillleben eine große Rolle. Diese Motive enthalten bereits an sich eine stärkere Tendenz zum Malerischen. In Kombination mit einer wuchtigen Pinselführung und einem leuchtenden, pastosen Farbauftrag werden jedoch zunehmend Anklänge des Expressionismus deutlich.5 Im folgenden Beitrag werden zwei Werke der Sammlung in den Fokus von maltechnischen Untersuchungen gerückt, die sich zeitlich diametral gegenüberstehen: das kleinformatige, sehr expressive Gemälde Die Geburt der Venus (Kat. 7), 1923 – zwei Jahre vor Corinths Tod in Berlin entstanden, und das monumentale frühe Werk Diogenes (Kat. 73) von 1891/92, welches aus heutiger Sicht stärker einer traditionellen Stil- und Bildkonzeption verhaftet ist. Obwohl beide Motive der Mythologie bzw. der philosophischen Literatur entnommen sind, lässt bereits eine erste Betrachtung der Werke eine große künstlerische wie technische Entwicklung erkennen. Untersuchungen der Bildträger und Malschichten durch Auflicht, Streiflicht, ultraviolette Strahlung (UV) und Befundung mit dem Stereomikroskop ermöglichten es, dem jeweiligen Entstehungs- und Malprozess, wie insbesondere dem Farbauftrag sowie der Pinselführung, nachzuspüren. Zusätzlich konnte das Gemälde Diogenes den bildgebenden Untersuchungsverfahren Infrarotreflektografie (IRR) und Radiografie (Röntgenanalyse)6 unterzogen werden, wodurch verborgene Schichten des malerischen Werkprozesses und technische Besonderheiten, wie Änderungen in der Bildkomposition, zerstörungsfrei sichtbar gemacht werden konnten. Die Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchungen werden in Korrelation zu zeitgenössischen Quellen und (auto-)biografischer Literatur gesetzt. Dabei stützen sich Überlieferungen zu Corinths Maltechnik und Arbeitspraktiken, sowohl in Bezug auf sein grafisches als auch malerisches Werk, hauptsächlich auf eigene Aussagen des Künstlers und Schilderungen seiner Frau Charlotte Berend-Corinth sowie seines Sohnes Thomas Corinth (1904–1988). Als wichtige Primärquelle dient Lovis Corinths erstmals 1908 erschienenes Lehrbuch Das Erlernen der Malerei.7 Darin verwertet der Künstler seine lange Studienzeit, aber auch wichtige Grundsätze eigener Lehrerfahrungen in seiner Malschule für Damen, die er ab 1901 im ehemaligen Atelier seines Freundes Walter Leistikow (1865–1908) in der Berliner Klopstockstraße 52 leitete. Seine Lehre nur als einen Weg unter vielen propagierend, forderte er von den Lernenden vor allem ein hohes Maß an Arbeitsdisziplin und stellte dabei die individuelle künstlerische Entwicklung in den Vordergrund. Auch seine Kritik an den akademischen Institutionen und damit seiner eigenen Laufbahn kommt zum Tragen: »Jedenfalls sind die meisten Meisterschüler, nachdem sie nach mehreren Jahren aus der Akademie definitiv entlassen sind, anstatt selbständig geworden zu sein, noch mehr in Banden und Fesseln von eingedrillten Regeln, die sie nun zuerst wieder verlernen müssen, um sich selbst zu finden. Die Selbständigkeit in dem Schüler – welcher jetzt das Handwerk kennt – zu erwecken, soll die größte Hauptsache sein. Deshalb möge er für sich selbst bleiben und nach seiner eigenen Überzeugung arbeiten, wie ihm der Schnabel gewachsen ist [...] Den größten Schatz trägt man in sich selbst: ›Seine Individualität‹. Und daß diese zum Ausdruck kommen muss, sei das Streben des jungen Künstlers.«8 Jüngere Forschungsbeiträge, die sich zumeist mit einzelnen Beständen oder Werken Corinths an Museen beschäftigen, werden ebenfalls vergleichend hinzugezogen. In einem Exkurs wird die Farbpalette des Künstlers im Kontext maltechnischer Entwicklungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert betrachtet. Ergänzende Recherchen im Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg geben Einblicke in den Bezug von Künstlermaterialien und verwendete Werkstoffe vor allem während Corinths späteren Berliner Jahren. 1 Corinth 1920, S. 92. 2 Vgl. Uhr 1990, S. 217; siehe ausführlich Bäzner 2009, S. 101–119. 3 Vgl. Rawe 1949, S. 85. 4 Berend-Corinth 1958 a, S. 135 f. 5 Vgl. Timm 1986, S. 54, 66. 6 Die Untersuchungen wurden von Prof. Ivo Mohrmann und Kerstin Riße von der HfBK Dresden (Fachbereich Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut) im Oktober 2024 durchgeführt. Ergänzend entstand eine Seminararbeit von Carla Wegener, worin die Ergebnisse bewertet wurden, vgl. Wegener 2025. 7 Vgl. Corinth 1920; daneben sind acht weitere Werke von Corinth erschienen, u. a. Legenden aus dem Künstlerleben (1909) oder Meine frühen Jahre (1954, posthum von Charlotte Berend-Corinth veröffentlicht). 8 Corinth 1920, S. 131.
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