Leseprobe

209 Skizzenbuch IX Künstler veröffentlicht wurde.7 Ein Vergleich des druckgrafischen Blattes mit der Bleistiftzeichnung im Skizzenbuch8 führt vor Augen, dass der verkleidete Falstaff in der Radierung in einer stimmungsvoll beleuchteten Landschaft platziert wurde. Doch auch die beiden Figuren weisen eine ganze Reihe von Unterschieden auf: Diese betreffen insbesondere die Kleidung des Jägers, sein Gestikulieren mit der linken Hand sowie seinen Körperbau, der in der Radierung noch feister wirkt. Dies deutet darauf hin, dass sich Corinth in dem Skizzenbuch dazu hat anregen lassen, eine alte Bildidee aufzugreifen. Abgesehen von diesen Rückgriffen, die die Bedeutung des Skizzenbuches verdeutlichen, kann eine Vielzahl der Studien anhand von zeitgenössischen Gemälden im Zeitraum um 1887 bis 1899 verortet werden. Darunter sind zunächst zwei Entwürfe zu dem 1897 in München geschaffenen Werk Susanna und die beiden Alten (BC 144) hervorzuheben, von denen einer die Komposition der Figurengruppe weitgehend vorwegnimmt.9 Des Weiteren finden sich mehrere Zeichnungen, die mit Porträts korrespondieren, die Corinth 1899 gemalt hat. Das Porträt Max Liebermann (BC 180) ist hier ebenso zu nennen wie dasjenige von Dr. Ferdinand Mainzer (BC 187) und das von Porträt Richard Israel (BC 190).10 Zwei Entwürfe für Frauenbildnisse könnten zudem Israels Frau Bianca zeigen, von der das Werkverzeichnis der Gemälde zwei Porträts aus der Zeit der Jahrhundertwende anführt. Besonders die ganzfigurige Darstellung, die Corinth während eines mehrwöchigen Aufenthalts bei dem Paar auf Gut Schulzendorf in Brandenburg malte, lässt hinsichtlich Kleidung und Haartracht an die Skizzen denken (BC 175, vgl. BC 191).11 Am deutlichsten ist der historische Bezugspunkt jedoch bei zwei Entwürfen gegeben, die die Jahreszahl 1900 tragen. Corinth wird sie im Jahr zuvor anlässlich der bevorstehenden Jahrhundertwende angefertigt haben.12 Die erste Variante zeigt einen geflügelten Genius, der – gutmütig lächelnd – die Hoffnung auf eine glückliche und erfolgreiche Zukunft verkörpert. In der anderen Variante erscheint diese Figur hingegen ohne Flügel, weshalb sie nunmehr als gewöhnlicher Mensch aufzufassen ist. Eilenden Schrittes nähert sich von links Chronos, der als alter Mann mit den Attributen Sense und Stundenglas dargestellt ist. Als Sinnbild der Vergänglichkeit entlarvt sein unaufhaltsames Voranschreiten den vermeintlich epochalen Jahreswechsel als flüchtig und nichtig. Als ob er diesen Gedanken noch weiter entwickeln wollte, zeichnete Corinth, der nach eigener Aussage zeitlebens »von schwerster Melancholie heimgesucht« wurde,13 auf der nächsten Seite14 eine dritte Fassung ohne die Jahreszahl. Stattdessen ist Chronos zu sehen, wie er ohne Unterschiede zu machen über alle sozialen Schichten der Gesellschaft hinwegschreitet, deren Repräsentanten der Zeichner am vorderen Bildrand versammelt hat. Man mag sich an das von den Reitern der Apokalypse überrannte Volk in dem berühmten Holzschnitt erinnert fühlen, den Albrecht Dürer (1471–1528) gleichfalls an der Wende zu einem neuen Jahrhundert geschaffen hat. Wesentlich unmittelbarer schließt die Bildfindung jedoch an eine Passage in Corinths Selbstbiographie an, in der er eine ebenso existenziell-­ nihilistische Weltsicht zum Ausdruck bringt: »Liebermann sagte einst zu mir, man muß alles haben, um zu sehen, wie nichtig alles ist. Mich stößt aber bereits alles ab, und ich will sogar das, was ich noch erreichen könnte, gar nicht haben, weil aus dem Errungenen schon der Ekel einen angrinst.«15 Möglicherweise ist es kein Zufall, dass sich die bereits erwähnte Seite mit Porträtstudien des angesprochenen Max Liebermann (1847–1935) in dem Skizzenbuch ausgerechnet zwischen den Entwürfen zum Jahreswechsel 1899/1900 befindet.16 Besonders die untere Darstellung des skeptisch dreinblickenden Berliner Künstlers lässt große Ähnlichkeiten zu dessen gemaltem Bildnis (BC 180) erkennen, welches Corinth in den Tagen vor Silvester »zum Vergnügen«17 schuf und entsprechend mit »Dezember 1899« datiert hat. 1 Das Wasserzeichen ist beispielsweise auch an einer 1896/97 datierten Kohlezeichnung des spanischen Genremalers Manuel González Santos (1875–1949) nachgewiesen. Das Format des Blattes entspricht in etwa einem Doppelblatt des Skizzenbuches IX. Siehe Madrid, Museo Nacional del Prado, Inv.-Nr. D010025, https:// www.museodelprado.es/ recurso/item/7f96d33edf13-4115-9284-49e1dda61b91. Vgl. https:// memoryofpaper.eu/ prado/prado.php?id_filigrana=65430 (8. 7. 2025). 2 Vgl. Ausst.-Kat. Regensburg 2025/26, S. 102–107. 3 Lovis Corinth, »Aufzeichnungen«, zitiert nach Berend-Corinth 1992, S. 79. 4 Zur Genese der Salome vgl. Ausst.-Kat. Regensburg 2025/26, S. 102–106. 5 Schwarz 1985, S. 191. 6 B 35 v. Siehe William Shakespeare, Die lustigen Weiber von Windsor / The Merry Wives of Windsor, 5. Akt, 5. Szene: »Eine andere Gegend des Parkes: Falstaff mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf« / »Another part of the Park. Enter Falstaff disguised as Herne«. 7 Vgl. Blatt 30 der genannten Mappe: Lovis Corinth, Krönung Heinrichs V., 1918 (Schwarz 390). 8 B 36 v. 9 B 25 r. Vgl. B 38 r. 10 B 29 r, 39 v, 40 v. 11 B 37 v, 38 v. Vgl. auch B 9 r. Siehe dazu Bianca Israel, Hannover-Kleefeld, Schreiben vom 29. 1. 1959 an Thomas Corinth, New York, in: Corinth 1979, S. 59 f., vgl. S. 57. 12 B 28 v, 30 v. 13 Corinth 1926, S. 171. 14 B 31 r. 15 Corinth 1926, S. 169. 16 B 29 r. 17 Lovis Corinth, Berlin, Schreiben vom 28. 12. 1899 an Josef Ruederer, München, in: Corinth 1979, S. 57 f. Abb. 2 Lovis Corinth Falstaff (Schwarz 389), 1918, Radierung, 26,5 × 20,0 cm (Platte), Blatt 11 der Mappe Shakespeare Visionen. Eine Huldigung deutscher Künstler, 3. Druck der Marées-Gesellschaft, R. Piper & Co., München 1918; Albertina, Wien, Inv.-Nr. DG2005/10942/11

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