Leseprobe

11  Die Gegenwart im Bild Hoch konzentriert und souverän schaut Lovis Corinth aus einem Selbstporträt, das er im Alter von etwa 20 Jahren in ein querformatiges Skizzenbuch zeichnete (Abb. 1). Der Grad der Ausarbeitung der einzelnen Partien innerhalb der Figur lenkt den Blick beim Betrachten unweigerlich auf das Gesicht und die Finger des sich selbst Abbildenden. Beim Halten des Buches präsentiert der Zeichner einen auffälligen Ring, der die Aufmerksamkeit beinahe ebenso stark auf sich zieht, wie Corinths durchdringend blickende Augen. Tatsächlich sprach die Tochter des Künstlers, Wilhelmine Corinth-Klopfer (1909–2001), von dem »Selbstportraet mit Ring«, als sie das aus dem ursprünglichen Kontext eines Buches herausgelöste Einzelblatt 1984 an die damalige Ostdeutsche Galerie verkaufte.2 Ein wesentlicher Aspekt dieses Selbstbildnisses resultiert jedoch weniger aus dem selbstbewusst zur Schau gestellten Ring, sondern aus dem Blick des Künstlers, der als ein »Blick aus dem Bild« nur unzureichend beschrieben und verstanden werden kann. Wenn man in Betracht zieht, dass die Zeichnung vor einem Spiegel entstanden ist, entwickelt sich ausgehend von dieser zunächst banal erscheinenden Voraussetzung eine nicht aufzulösende wechselseitige Rückkopplung der unterschiedlichen Bedeutungseben des Begriffs der Reflexion zwischen optischem Widerschein und schöpferischer Selbstbetrachtung. Nicht zuletzt die Frontalität der seitenverkehrten Darstellung, die dem Eindruck des Spiegelbildes entspricht, und die scheinbare Gegenwärtigkeit des Beobachtens und Zeichnens sind es, die es beim – reflektierten – Betrachten des Skizzenblattes gleichsam erlauben, Corinths Blick in den Spiegel nachzuspüren (vgl. auch Abb. 2). Umgekehrt lässt sich ausgehend von dieser Überlegung herausarbeiten, wie der gewählte Darstellungsmodus, der Authentizität und Unmittelbarkeit suggeriert, dem privaten Charakter eines nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Skizzenbuches geradezu idealtypisch entspricht. So wie das Buch, das in der Hand des zeichnenden Künstlers zu sehen ist, einst tatsächlich dieses Selbstporträt enthalten hat, so war allein der Künstler als idealer Betrachter seines Werkes dazu in der Lage, in dem eindringlichen Blick aus dem Bild den eigenen Blick in den Spiegel wiederzuerkennen. Insofern geht Corinths Selbstporträt mit Ring über die konventionelle Funktion eines Bildnisses hinaus, welche im Kern darin bestehen dürfte, die äußere Erscheinung, den Habitus einer Person über Zeit und Raum hinweg zu bewahren. Weniger im Bestreben, die vergehende Zeit im Bild anzuhalten, bestünde demnach das Interesse, sondern vielmehr darin, sich beim Betrachten des Bildes dessen Schaffensprozess als einen Akt der Selbstreflexion virtuell immer Abb. 1 Lovis Corinth Selbstporträt mit Ring, Ziehharmonikaspieler (Skizzenbuch II, B 28 r), 1878, Bleistift, bez. mit Bleistift u. r.: Selbstporträt, etwa 1878 / Wilhelmine Corinth; dazwischen Stempel in Braun in Rechteck: ATELIER-LOVIS CORINTH, 18,7 × 27,4 cm (Blatt); Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Inv.-Nr. 14139, recto Michael F. Zimmermann zum Gedächtnis 1 Riegl 1899, S. 48. Vgl. Zimmermann 2008, S. 120 f. 2 Wilhelmine CorinthKlopfer, New York, Schreiben vom 3. 1. 1984 und 20. 2. 1984 an Dr. Werner Timm, Regensburg; Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Archiv. Vgl. Ausst.-Kat. Bremen 1975, Nr. 4.

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