Leseprobe

13  wieder vergegenwärtigen zu können.3 Deutlich wird dies im Unterschied zu einer gewöhnlichen Porträtsitzung mit Modell, wie sie auf der Rückseite desselben Blattes dargestellt ist (Abb. 3). Unter Zuhilfenahme eines zweiten Spiegels hatte sich Corinth bei anderer Gelegenheit dazu in die Lage versetzt, sich selbst gewissermaßen »von außen« betrachten und zeichnen zu können (Abb. 4). Das Ergebnis, eine Dreiviertelansicht des eigenen Kopfes, beschäftigte Corinth offenbar so sehr, dass er sich auf dem nächsten Blatt sogar noch ein zweites Mal daran versuchte.4 Trotz seines konzentrierten Blickes, der in diesen Skizzen ebenfalls zu erkennen ist, bleibt deren Wirkung deutlich hinter der des Selbstporträts mit Ring zurück. Dies ist wahrscheinlich auch deshalb der Fall, weil Letzteres dazu einlädt, den Künstler aus dessen eigener Perspektive, gleichsam mit seinen Augen zu betrachten. Wohl auch deshalb wurde es als Illustration für Corinths postum erschienene Selbstbiographie ausgewählt, in der der Künstler die Authentizität seiner Darstellung (»Wahrheit war mein Prinzip.«5) ebenso betont, wie es das Selbstporträt suggeriert, das nicht mehr und nicht weniger zu sein vorgibt als ein getreues Ebenbild, welches man im Spiegel erblickt.6 Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass das Blatt aus dem Skizzenbuch herausgeschnitten wurde, um es als Vorlage für entsprechende Reproduktionen verwenden zu können. Charlotte Berend-Corinth (1880–1967) erläutert in dem auf Silvester 1925 datierten Vorwort zu der von ihr herausgegebenen Selbstbiographie ihres verstorbenen Mannes die Beweggründe für die Auswahl der »Bilderbeigabe«: »Unter den losen Zetteln fand ich auf einem [F]olgendes: ›Lebensbeschreibung oder Biographie: Der Maler würde es ein durch Worte geschaffenes Selbstporträt nennen. [...]‹ Diese Worte leiteten mich, den anfangs angegebenen Wunsch so auszudehnen, daß die Bilderbeigabe zu Corinths Lebensbeschreibung fast nur aus seinen Selbstbildnissen bestehen sollte. Diese Porträts aus seiner Jugend sind aus seinen Skizzenbüchern genommen, die späteren aus seinem Zeichenschrank«.7 Das Werden der Sammlung Auch durch das Ausblenden der Figur des sitzenden Ziehharmonikaspielers, die eigentlich auf der Seite neben dem Selbstporträt zu sehen ist, erweckt die Reproduktion in der Selbstbiographie den Eindruck eines selbstständigen Kunstwerks. Eingebunden in den ursprünglichen Zusammenhang eines Skizzenbuches war die Zeichnung jedoch alles andere als autonom. Sie war – wie selbst das entnommene Blatt mit seinen einzelnen Motiven noch erkennen lässt – umgeben von Skizzen, Entwürfen und gelegentlichen schriftlichen Notizen unterschiedlicher Funktion und Wertigkeit. Das Herauslösen aus diesem Kontext verändert nicht nur die Wahrnehmung des Sammlungsobjekts. Es bedeutet zwangsläufig auch einen Verlust an historischen und künstlerischen Sinnzusammenhängen, die aufgrund der Fragmentierung überhaupt nicht mehr in den Blick geraten können. Insbesondere am Beispiel der Skizzenbücher, die der Künstler auf Reisen verwendete, lassen sich etwa anhand von Notizen zu Bahnverbindungen und Hotels skizzierte Ansichten identifizieren und Argumente für Datierungen finden. Solche Vermerke sind auf Einzelblättern seltener anzutreffen, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie häufig auf den Spiegeln, das heißt auf den Innenseiten der Buchdeckel, zu finden sind, wo sie im Bedarfsfall sofort aufgeschlagen werden konnten.8 Im Rahmen der Vorbereitung dieser Edition ist es gelungen, die Zugehörigkeit dieses Einzelblattes zum Skizzenbuch II nachzuweisen.9 Nicht nur aufgrund der Beschaffenheit des Papiers und der (in diesem Fall) individuellen Spuren der Fadenheftung, also anhand der Löcher und Abdrücke im Falz, ist die Zuordnung zu begründen. Vermutlich ein Jahrhundert nachdem das Blatt aus dem Buch entnommen worden war, ließ sich sogar die ursprüngliche Position des Blattes aufgrund der Abklatschspuren der Zeichnungen auf den benachbarten Blättern bestimmen.10 Anders als das Einzelblatt wurde das Skizzenbuch II 1993 im Kunsthandel erworben. Allerdings befand es sich zuvor im Besitz von Thomas Corinth (1904–1988), dem Sohn des Künstlers, der es der Stiftung bereits Anfang der 1980er-Jahre gemeinsam mit Skizzenbuch I in dem Wissen angeboten hatte, dass zuvor sein Vater »Seiten ausgerissen und verkauft hatte«.11 Tatsächlich scheint es so, als habe sich zumindest dieses ein Blatt (von insgesamt 14 Blättern, die in Skizzenbuch II fehlten) noch bis zum Tod des Künstlers in dem Skizzenbuch befunden. Charlotte BerendCorinth könnte es wenig später herausgelöst und separat aufbewahrt haben, nachdem sie es in der Selbstbiographie Corinths hatte publizieren lassen. Vorausgesetzt, dass Corinths Witwe das Blatt aus dem Skizzenbuch entnommen hatte, wäre es denkbar, dass der Nachlassstempel »ATELIER-LOVIS CORINTH« unten rechts auf der Seite mit dem Selbstporträt mit Ring bereits 1925/26 angebracht worden ist.12 Spätestens nach ihrem Tod im Jahr 1967 war die ursprüngliche Zugehörigkeit zu Skizzenbuch II vermutlich in Vergessenheit geraten. In einem anderen Fall konnte ebenfalls ein Einzelblatt aus dem Bestand der Grafischen Sammlung des Kunstforums Ostdeutsche Galerie einem der Skizzenbücher zugeordnet werden, wobei nicht nur das entsprechende Papier, sondern auch der thematische Zusammenhang mit anderen enthaltenen Entwürfen als Argumente für die Zugehörigkeit angeführt werden können.13 Ähnlich verhält es sich wohl auch mit zwei Skizzenblättern, die Corinth im Rahmen seiner Italienreise 1883 in Torbole am Gardasee geschaffen und später wahrscheinlich aus Skizzenbuch VI 3 Vgl. Zimmermann 2016, bes. S. 75 f., 99 f. 4 Vgl. Skizzenbuch XI, B 20 v. 5 Corinth 1926, unpaginiert (Vorwort für die postum zu veröffentlichende »eventuell Ausgabe« der autobiografischen Schriften, verfasst am 20. 9. 1923). 6 Corinth 1926, Abb. nach S. 72; vgl. Corinth 1954, Abb. vor S. 49. In beiden Fällen ist 1878 als Datierung angegeben. 7 Charlotte Berend-­ Corinth im Vorwort zu Corinth 1926, unpaginiert. 8 Zu Notizen in Skizzenbüchern siehe Schoch 2019. 9 Weitere Blätter wohl in Ausst.-Kat. Bremen 1975, Nr. 5–8, hier: Nr. 4. Vgl. auch Skizzenbuch VI, dem ebenfalls ein Einzelblatt aus dem eigenen Bestand zugeordnet werden konnte. 10 Vgl. Skizzenbuch II, B 28. 11 Thomas Corinth, New York, Schreiben vom 22. 11. 1981 an Dr. Ernst Schremmer, Künstlergilde Esslingen, zugleich Vorstandsmitglied der Ostdeutschen Galerie Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Archiv. Vgl. Skizzenbuch I und II. 12 Den Stempel verwendete in den 1980er-Jahren Thomas Corinth, anscheinend aber nicht dessen Schwester Wilhelmine. Siehe dazu bes. Skizzenbuch I und II, vgl. Skizzenbuch III und das SkizzenAlbum. 13 Vgl. Skizzenbuch VI.

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